West-östliche Gurke

BERLIN. Wolfgang Beckers Komödie "Good Bye, Lenin!" ist nun schon seit drei Wochen der Favorit des Publikums. Grund genug, um den Film noch einmal aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten - von einem westdeutschen und einem ostdeutschen Kritiker.

Deutschland im Jahr 14 nach der Maueröffnung: Filinchen, diesekrosse Knäckebrot-Alternative, und Moccafix, eine ArtKaffee-Ersatz, sind längst auch in Bayern zu haben. Dienahrhaften Symbole einer untergegangen Republik schicken sich an,westdeutsche Supermarkt-Regale zu übernehmen. Greife ichzu? Nicht wirklich - die Sehnsucht nach dem Vergangenen hattesich überlebt. Bis ich mir eines Sonntags, mit der obligatorischen Tüte Popcorn in der Hand, "Good bye, Lenin!" ansah. Weil die Mutter kurz vor der Wende ins Koma fällt, gaukeln ihr die Kinder nach dem Erwachen eine heile DDR-Welt vor - und erklären die Wessis in der Nachbarschaft mit einer großzügigen Geste des sozialistischen Staatenlenkers, der den Zufluchtsuchenden im Arbeiter- und Bauernstaat Asyl gewährt. Und auf einmal rutschte ich ganz tief in meinen Kinosessel, das Popcorn lag mir schwer im Magen: "Die DDR, die ich für meine Mutter schuf, wurde immer mehr die, die ich mir gewünscht hätte", sagt Alexander an einer Stelle des Films. Und da hörte die Sache auf, lustig zu sein.

Was wäre gewesen, wenn - wenn die DDR die BRD "übernommen" hätte, wenn der Gedanke eines "Sozialismus\\\\\\' mit menschlichem Antlitz" überlebt hätte, wenn nicht kapitalistische Ellbogenmentalität den Solidaritäts-Gedanken von Subbotnik-Einsätzen oder Timur-Aktionen verdrängt hätte? Schwelgt man schon in Ostalgie, wenn man diese Utopie einmal durchspielt?

"Good bye, Lenin!" wird derzeit gern mit "Sonnenallee" oder "Helden wie wir" verglichen. Aber während bei den beiden anderen Wende-Filmen die DDR im Grotesken verlöscht, belässt ihr "Good bye, Lenin!" das Existenzrecht - und sei es nur als Kindheitserinnerung, als Traum des Kosmonauten, der von oben auf sein kleines Land schaut und Mauern nur als zu überwindende Hindernisse ansieht.

Wie eine verschluckte Spreewald-Gurke saß mir nach diesem Film ein dicker Kloß im Hals. Nicht, weil sich beim Anblick des Pionierlagers am Werbellinsee eine unwiderstehliche Sehnsucht nach Jung-Pionier-Hemd und -Halstuch meiner bemächtigt hätte. Doch der Eindruck eines Stücks geraubter Kindheit wird bleiben - wenngleich ich deshalb noch lange nicht zu Filinchen und Moccafix zurückgekehrt bin.

JÖRG VÖLKERLING aus Jena

*Im Sommer 1988, fast genau zehn Jahre, nachdem der NVA-Offizier Sigmund Jähn als erster Deutscher ins Weltall flog, besuchte ich mit meinen Großeltern Verwandte in der "Ostzone". Obwohl die DDR ja irgendwie deutsch war, erschien mir vieles fremd. Die Leute sprachen komisch, in Eisdielen gab es

wochenlang kein Eis, weil das Milchpulver ausgegangen war, und in einer supermarktähnlichen Einrichtung namens "Konsum" kostete eine Tafel "Lindt"-Schokolade neun Mark. Außerdem existierten in dem kleinen sächsischen Ort und in der Umgebung keine richtigen Straßen. Aber es gab ja auch keine richtigen Autos.

Der Regisseur Wolfgang Becker und der Drehbuchautor Bernd Lichtenberg achteten in ihrem viel umjubelten Film "Good Bye, Lenin!" sehr auf solche Details. Allerdings nur bei den Requisiten. Der Hauptdarsteller Alex, der wie die meisten Darsteller Hochdeutsch (sic!) spricht, trägt ein T-Shirt von "MZ", seine Mutter trinkt "Mocca Fix Gold", und das Kleinkind seiner Schwester steckt in Windeln aus Plaste. Die häufige Nennung und Präsentation von Ost-Marken wirkt absolut klischeehaft und ziemlich plakativ.

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