Wie wir wurden, was wir sind

Trier · Rom, Venedig, London, Nürnberg, Trier: Diese und zahlreiche andere Städte gehörten zu den Lebens- und Handelszentren des europäischen Mittelalters. Gründung, Blüte, Niedergang und Wiedererstarken der Städte beleuchtet der Historiker Bernd Fuhrmann in einem opulenten Bildband.

Trier. Seit etwa 500 000 Jahren leben Menschen auf der Erde. Es sollte allerdings noch einmal rund 495 000 Jahre dauern, bis sie sich zu Gemeinschaften zusammentaten, in denen sich das soziale Leben auf einem relativ eng eingeschränkten Platz abspielte.
Die Erfindung der Stadt als Lebensraum ist mithin keine Erfindung des europäischen Mittelalters, sondern eine der frühen Hochkulturen, die sich etwa am Nil, an Euphrat und Tigris oder am Jangtsekiang bildeten. Womit schon ein entscheidendes Kriterium für einen Ort der Stadtgründung genannt ist: Ein Fluss erleichterte den Stadtbewohnern das Leben in jeder Hinsicht; ließen sich Güter und Waren aller Art doch am einfachsten auf dem Wasserweg transportieren.
Hoffen auf ein sicheres Leben


Nach diesem Prinzip wurden dann auch zahlreiche Städte in Europa angelegt: Entlang des Rheins, der Donau und der Mosel entstanden Zentren des Gemeinlebens mit Handel, Wirtschaft und Kultur. In den Städten hofften die Menschen auf ein besseres und sichereres Leben; nicht zuletzt war auch die Aussicht auf größeren Wohlstand ein Grund, vom Land wegzuziehen und sich innerhalb von Stadtmauern niederzulassen. Andererseits stellte das Leben in einer Stadt deren Bewohner vor besondere Herausforderungen: Sie mussten ihr Zusammenleben und vor allem ihr Überleben organisieren, das heißt, ein ständiger Zufluss von Lebensmitteln, die auf dem Land in "greifbarer" Nähe waren, sowie Gütern des Alltags musste gewährleistet sein.
Trier größer als Köln


Die Anfänge und die Entwicklung des städtischen Lebens hat der Historiker Bernd Fuhrmann in einem voluminösen Prachtband geschildert. Er beschreibt die erste Blüte, den oft folgenden Niedergang und die Wiedergeburt des städtischen Lebens. Trier zum Beispiel, das in dieser Untersuchung als Ausnahmestadt geschildert wird: Mit 285 Hektar war das die Stadtmauer etwa ab dem Jahr 300 umschließende Gebiet größer als Köln (96 Hektar) und Mainz (97 Hektar). Zu Zeiten Konstantins wohnten mehr als 50 000 Menschen in dem umgrenzten Gebiet, eine für die damalige Zeit gewaltige Anzahl. 200 Jahre später wohnte nur noch ein Zehntel der Bevölkerung in einem "mit 6418 Metern Länge viel zu großen Mauerring".
Fuhrmanns Forschungsbereich erstreckt sich räumlich von Lissabon bis Kiew und zeitlich vom 2. bis zum 16. Jahrhundert. Dank der reichhaltigen Bebilderung ist der Band nicht zuletzt auch eine visuelle Zeitreise, die die wissenschaftlich fundierten Texte auflockert. Vom Marktplatz geht es dabei hinaus in die Weltwirtschaft und zurück in die Provinz: Obwohl die Handelswege nach heutigen Maßstäben von gigantischen Ausmaßen waren, hing alles schon mit allem zusammen - sozusagen die Urform der Globalisierung.
Glanzvolle Vergangenheit


In zahlreichen europäischen Städten ist die Erinnerung an die glanzvolle Vergangenheit nach wie vor sicht- und greifbar: Straßenverläufe, Plätze und Gebäude, Rat- und Zunfthäuser sowie sakrale Gebäude, mitunter nur die Reste einer alten Stadtmauer legen Zeugnis ab von einstiger Größe und ehemaligen Grenzen der Gemeinwesen, die ihre Bewohner durch ihre Mauern vor Angriffen von Feinden schützten.
Freilich: Auch wenn die Entstehungszeit dieser Städte in ihren steinernen Zeugen manifest ist und ihre Anlage sich im Lauf der Zeit vielleicht nicht grundlegend geändert hat, so würde sich ein Zeitreisender, um fünfhundert oder tausend Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt, in seiner eigenen Stadt kaum zurechtfinden. Er erkennt möglicherweise eine Kathedrale, ein Rathaus oder ein anderes Gebäude wieder, das die Jahrhunderte überdauert hat und das Bild der Stadt bis in die Gegenwart hinein prägt. Aber "seine" Stadt ist längst nicht mehr das fest ummauerte Areal, in dem seine Urahnen gelebt und gewirkt haben und das zu verlassen nur durch ein oder mehrere Stadttore möglich war, die nachts verschlossen wurden. Die Städte sind "aufgeweicht", die Bebauung ist ausgeufert zum "Weichbild", den Vororten, die spärlich bebaut sind und fließend ins "Ländliche" übergehen.
Und noch ein wenig Statistik: Während im 19. Jahrhundert das städtische Wohnen in Europa dominierte, waren es zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands gerade einmal 20 Prozent der Menschen, die in städtischen Gemeinschaften lebten. (In Italien lag der Anteil etws höher; in Skandinavien und Osteuropa niedriger). Hier liegen, so Fuhrmann, die Wurzeln des modernen Europa, "gelangte ein selbstbewusstes Bürgertum zu politischer Macht und Autonomie, der Handel blühte auf, Schulen und Universitäten wurden gegründet".
"Hinter festen Mauern" ist eine lehrreiche und spannende Entdeckungsreise zu den Wurzeln städtischer Zivilisation - und damit zu unseren eigenen.
Bernd Fuhrmann, Hinter festen Mauern. Europas Städte im Mittelalter, Theiss Verlag, 288 Seiten, zahlr. Abb., 49,95 Euro.

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