Wiedergelesen: In den Mulden bei den Kiefern

Die erste Liebesgeschichte des Schriftstellers Siegfried Lenz. "Schweigeminute" erzählt die Liebe zwischen dem Schüler Christian und der Englischlehrerin Stella.

So einfach ist die Geschichte, so rührend und ergreifend ist sie erzählt. Die Geschichte von Stella, einer Englischlehrerin, und Christian, ihrem Schüler, ist die erste Liebesgeschichte, der sich Siegfried Lenz widmet. Mit 82 Jahren. Und er erzählt diese tragische Liebe als Ich-Erzähler in der Perspektive eines Schülers. Es ist ein Zauber, der den Leser vom ersten Satz an fesselt. Ein Zauber aus Sand, Salz und delikaten Wörtern. An der Nordsee entsteht die Liebe zwischen Lehrerin und Schüler. Der Leser atmet die Meeresluft, spürt die Brise in jeder Seite des Romans. Anfangs schüchtern kommen sich Lehrerin und Schüler beim Strandfest näher. Die Liebe entwickelt sich, bis in Christian die Idee keimt, eine gemeinsame Zukunft mit Stella aufzubauen. Er erzählt von dieser Liebe. Er erinnert sich daran. Weil Stella in jenem Sommer bei einem Bootsunfall gestorben ist. Aus der Gedenkstunde geht der Roman hervor. Und in der Schweigeminute endet die Liebesgeschichte. Es ist Stoff genug, um ganz einfach in Voyerismus und Kitsch reinzurutschen. Doch Lenz ist meilenweit entfernt, einen solchen Fehler zu machen. Nie wird Sex beschrieben, doch wie sinnlich sind solche Sätze: "Ich streichelte ihre Schenkel und dabei suchte ich ihren Blick." Über seinen Protagonisten erzählt Lenz sensibel und respektvoll: "Du saßest auf dem Kühler, als der Wind dein Strandkleid hob und dein blassblauer Slip sichtbar wurde, schnell winktest du ab.” Diese Du-Ansprache. Sie geht einem tief ins Herz jedesmal, wenn man es liest. In diesem Du steckt der größte Teil des Geheimnisses dieses Romans. In diesem Du steckt Nähe und gezwungene Distanz, Zärtlichkeit und Melancholie, Leben und Tod. Barbara Cunietti Siegfried Lenz, Schweigeminute, Hoffmann und Campe, 2008, 120 Seiten, 15,95 Euro

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