Wiedergelesen: Lieblingsbücher

Es beginnt so harmlos. Man hat vergessen, wo man den Haustürschlüssel deponiert hat.

Nichts Besonderes. Man zieht den Mantel seiner Frau an statt den eigenen. Kann passieren. Man erinnert sich an einen Urlaub in Rom - aber nicht an den Namen des Brunnens, in den man die Münzen hineingeworfen hat. Wer kennt das nicht? Und man stellt seiner Frau die Zuckerdose neben die Kaffeekanne, obwohl sie ihren Kaffee noch nie gesüßt hat. Das freilich ist ungewöhnlich. So ungewöhnlich wie der Roman des niederländischen Schriftstellers Hendrik Jan Marsman (1937 - 2012), der seine Lyrik und Prosa unter dem Namen Bernlef veröffentlichte.

"Hirngespinste", so der Titel, verkaufte sich allein in den Niederlanden 650 000 Mal; es wurde in sechzehn Sprachen übersetzt, verfilmt und für die Bühne bearbeitet. In vielen seiner Werke ging der Autor der Frage nach, inwieweit sich subjektives und objektives Erleben, Erinnern und Vergessen, Beobachtung und Wahrnehmung in Sprache fassen lässt. In "Hirngespinste" geht er noch einen Schritt weiter: Er beschreibt das allmähliche Fortschreiten einer Demenz aus der Perspektive des Betroffenen. Die Hauptperson heißt Maarten Klein, ein Niederländer, der mit seiner Frau Vera in Kanada lebt. Er ist - nach Tätigkeit für eine internationale Organisation, die sich mit Fischfangquoten beschäftigt - längst pensioniert. Und nun beginnen sich in seine freien Tage, die sich ins Unendliche zu dehnen scheinen, die schwarzen Löcher seiner Erinnerung auszubreiten.

Eines Morgens geht er zur Arbeit und bricht in das längst verlassene Bürogebäude ein, weil er glaubt, der Erste zu sein, der zum Dienst erscheint. Er bewegt sich nur auf Zehenspitzen durchs Haus, um den (vor Jahrzehnten in Holland gestorbenen) Vater nicht aus dem Mittagsschlaf zu reißen. Er wartet darauf, dass die Kinder abends nach Hause kommen (die in der Alten Welt geblieben sind). Er erkundigt sich in der Bibliothek nach dem Verbleib seiner Frau, die dort schon lange nicht mehr arbeitet. Und eines Tages schaut er eben diese Frau, an deren Seite er sein Leben verbracht hat, an wie die Fremde, die sie für ihn geworden ist. "Hirngespinste" ist eine bedrückende Fallstudie über das allmähliche Nichtmehrsein. Dabei spiegelt sich der quälende geistige Verfall auf ebenso quälend anschauliche Weise in der Sprache des Protagonisten wider, die immer einfacher, schlichter, zusammenhangloser wird. Die Sätze zerfallen in ihre Einzelteile, die Wörter stehen ungeordnet nebeneinander, die Eindrücke überlagern sich, verdrängen einander, widersprechen sich: Chaos im Kopf, Hölle im Herzen.

Es hat wohl seine Gründe, dass der Reclam-Verlag "Hirngespinste" noch einmal veröffentlicht: Allein im Zeitraum seit Erscheinen des Romans im Jahr 1984 bis heute ist die Lebenserwartung von Frauen um rund zwölf, von Männern sogar um 15 Jahre gestiegen - und damit auch für immer mehr Menschen die Gefahr, im Alter die Erinnerung an das eigene Leben zu verlieren. Jeder empfindet seine Krankheit anders; vermutlich verläuft auch jede Demenz anders ab. Bernlefs Interpretation der Weltsicht eines Alzheimerkranken mag daher individuell und nicht übertragbar sein. Dennoch ist sie ein ebenso beeindruckendes wie beklemmendes Dokument der Auslöschung. Und wenn man dem Schriftsteller glauben will, ist es längst nicht so, dass nur die Umgebung des Patienten unter seiner Krankheit leidet: Maarten Klein jedenfalls ist sich - trotz der zunehmenden Dysfunktionalität seines Gehirns - seines zunehmenden Verfalls aufs Schmerzhafteste bewusst. Rainer Nolden Bernlef: Hirngespinste, aus dem Niederländischen von Maria Csollány, mit einem Nachwort des Autors. Reclam Verlag 164 Seiten 12,95 Euro.

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