Wiedergelesen: Zu perfekt, um schön zu sein

Eine Welt ohne Hass und Hunger. Ohne Angst, Albträume und Anderssein. Dafür durchkomponiert vom Morgen bis zum Abend, von der Geburt bis zum Tod. Für Sorgen bleibt da gar kein Platz. Zu schön, um wahr zu sein? Zu perfekt, um schön zu sein!

Doch genau das ist es, worauf sich Jonas\' Gesellschaft verständigt hat: Mittelmäßigkeit. Bloß kein Ausschlagen, weder nach oben noch nach unten. Keine Gefühle, keine Erinnerungen. Sorglosigkeit ersetzt Individualität. Was bequem klingt, ist bei genauerer Betrachtung eher funktionieren als leben. Der Ehepartner - zugeteilt. Die Kinder - zugeteilt. So kann sich der zwölfjährige Jonas seinen Beruf natürlich auch nicht selbst aussuchen. In seinem Fall ist das eine besondere Aufgabe: Er soll neuer Hüter der Erinnerung der Gemeinschaft werden. Und so lernt er zum ersten Mal im Leben Liebe und Freude, aber auch Schmerz, Wut und Trauer kennen. George Orwells "1984" oder Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" gehören zu den bekanntesten Dystopien, die die US-amerikanische Autorin Lois Lowry sicherlich inspiriert haben. Die derzeit vor allem bei Mädchen beliebte "Cassia & Ky"-Trilogie von Allie Condie wiederum trägt deutliche Züge des "Hüters der Erinnerung". Was Lowry allerdings vorzüglich - und besser als in den genannten Werken - gelingt, ist, den Leser vorurteilsfrei dazu anzuregen, selbst zu entscheiden, welche Welt die bessere sein mag. "Hüter der Erinnerung" ist ein Jugendbuch (ab zehn Jahren), das noch lange nachhallt. Weil die Idee zwar nicht neu sein mag, ihre Umsetzung dafür umso mehr bewegt. Rebecca Schaal Lois Lowry: "Hüter der Erinnerung", Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, 206 Seiten, 5,95 Euro. Diese und weitere Kolumnen finden Sie auch im Internet auf www.volksfreund.de/kolumne

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