Stadionsong Vom Theater auf die großen Fußballplätze

Liverpool/Dortmund · „You’ll never walk alone“ – das Lied erklang vor 75 Jahren zum ersten Mal und hatte damals mit Fußball überhaupt nichts im Sinn. Doch die Arenen machten es populär.

 Auch in Deutschland bedienen sich Fußballfans des berühmten Musical-Songs wie hier beim 1. FC Kaiserslautern, wo sie zu Spielbeginn ein Banner mit der Aufschrift „Jeff, you‘ll never walk alone!“ in die Höhe hielten.

Auch in Deutschland bedienen sich Fußballfans des berühmten Musical-Songs wie hier beim 1. FC Kaiserslautern, wo sie zu Spielbeginn ein Banner mit der Aufschrift „Jeff, you‘ll never walk alone!“ in die Höhe hielten.

Foto: dpa/Uwe Anspach

Ja, das Publikum war durchaus ergriffen an jenem Donnerstagabend, dem 19. April 1945, im Majestic Theatre am New Yorker Broadway, als im Musical „Carousel“ zum ersten Mal der Song erklang, der die Heldin des Stückes über den Tod ihres Mannes hinwegtrösten soll: „You‘ll never walk alone“. In diesen letzten Kriegstagen wurde die Show überwiegend von Frauen besucht, deren Ehemänner, Verlobte und Freunde auf der anderen Seite der Welt gerade für das Ende der Nazi-Schreckensherrschaft sorgten. „You‘ll never walk alone“ gehört in die Kategorie der Durchhalteschlager, die damals überall, wo das Chaos herrschte, komponiert wurden und deren Kernaussage lautete „Es geht alles vorüber“.

„Carousel“ war, nach „Oklahoma“, das zweite Musical des Autorenpaares Richard Rodgers und Oscar Hammerstein. Als Vorlage nahmen sie das populärste Theaterstück des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár, „Liliom“, 1909 in Budapest uraufgeführt. Der Titelheld arbeitet als Karussellausrufer, der schneller mit den Fäusten als mit Worten ist. Er hat ein Verhältnis mit der Spielbudenbesitzerin und macht einem anderen Gspusi ein Kind, kommt bei einem Raubüberfall ums Leben und darf nach 15 Jahren für einen Tag aus der Hölle zurück auf die Erde, wo er seiner inzwischen halbwüchsigen Tochter begegnet. Auch sie bekommt die Unbeherrschtheit des Vaters zu spüren, aber als er ihr eine deftige Ohrfeige versetzt, empfindet sie nicht den geringsten Schmerz.

Das gefühlssatte Musical mit reichlich Rührfaktor wurde seit seiner Uraufführung immer wieder inszeniert, auch auf Deutsch 1972 an der Volksoper Wien (der Erfolg hielt sich jedoch in überschaubaren Grenzen). Die Musik hat es ebenfalls nicht zu Weltruhm gebracht – bis vielleicht auf den „Carousel-Waltz“, der  als Ouvertüre der Show bisweilen in Konzertsälen erklingt, und eben die tränentreibende Schlussballade „You‘ll never walk alone“.

Auch die wäre wahrscheinlich längst dem Vergessen anheimgefallen – wäre es in englischen Fußballstadien in den 1960er Jahren nicht Usus gewesen, vor Spielbeginn die aktuelle Hitparade rauf- und runter zu dudeln. 1963 hatte die Liverpooler Band „Gerry and the Pacemakers“, bis dato eher mittelmäßig erfolgreich, besagten Song für ihr Repertoire gecovert, der es dann tatsächlich in die Charts – und damit auf die englischen Fußballplätze – schaffte. Während die meisten Hitparadenbeiträge nach wenigen Wochen wieder verschwanden, hielt sich „YNWA“ jedoch hartnäckig in der (Fußball-)Öffentlichkeit.

Und ab hier geht es in den Bereich der Legende: Vor einem Spiel des FC Liverpool fiel die Soundanlage im Stadion an der Anfield Road aus, als just dieses Lied gespielt wurde. Prompt sollen die erwartungsfrohen Fans den Song höchstpersönlich aus tausenden Kehlen erfolgreich bis zum Ende gebracht haben. Seit diesem Tag erklingt die Hymne jeweils vor Spielbeginn. Und seit der Katastrophe im Hillsborough Stadium in Sheffield am 15. April 1989, bei der der FC Liverpool und Nottingham Forest um den FA Cup spielten und bei einer Massenpanik zu Beginn der Partie 96 Zuschauer ums Leben kamen, trägt der Liverpooler Verein die erste Zeile des Liedes im Vereinswappen. Die Ballade hat es übrigens selbst bis ins Ruhrgebiet geschafft: Im Westfalenstadion erklingt sie regelmäßig bei den Heimspielen von Borussia Dortmund.

Schon kurz nach seiner Veröffentlichung erfreute sich „You‘ll never walk alone“ übrigens großer Popularität bei Beerdigungen. Der amerikanische Bandleader und Rundfunkmoderator Fred Waring (1900 – 1984) wählte es als Begleitmusik für die Bestattung seiner Mutter. Es sei ein wolkenverhangener, trüber Tag gewesen, erinnerte er sich später. Als der Chor und der Organist jedoch die höchste Note der Komposition, das zweigestrichene g auf der Silbe „nev“- in der letzten Zeile des Textes erreichten, brach die Sonne durch die Wolken, und ein Strahl fiel durch das bunte Kirchenfenster auf den Sarg, so dass die Trauergemeinde vor Ehrfurcht erstarrte. Ein wirkungsvolleres Ende hätte sich auch ein Hollywood-Regisseur kaum ausdenken können.

„You‘ll never walk alone“ ist, natürlich, auch geschaffen wie für eine Krisenzeit à la Corona, obwohl gerade jetzt besser jeder allein unterwegs sein sollte. Die jüngste Coverversion des (mittlerweile) Evergreens veröffentlichten kürzlich Tom Moore („Captain Tom“) und der britische Radiomoderator und Schauspieler Michael Ball. Moore war mit seinen 99 Jahren der älteste Interpret des Liedes und feierte dessen ersten Platz auf der Hitliste – gleichzeitig mit seinem 100. Geburtstag.

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