Zu wahr, um schön zu sein

Theater und soziale Realität - kriegt man das zusammen, ohne dass verkrampfter Agitprop entsteht? Geht doch, sagen Tufa, Trie rer Tafel und Karussell e.V. Und beweisen es eindrucksvoll mit ihrer Produktion "Darf\'s noch ein bisschen mehr sein?".

 Anstehen für das, was andere nicht mehr wollen: Szene aus dem Tufa-Tafel-Theater. TV-Foto: Anke Emmerling

Anstehen für das, was andere nicht mehr wollen: Szene aus dem Tufa-Tafel-Theater. TV-Foto: Anke Emmerling

Trier. Manchmal ist die Realität ganz nah. Zum Beispiel, wenn sich die Darsteller in einer langen Schlange quer durchs Publikum bei der Lebensmittelverteilung auf der Bühne anstellen. Genau so sieht es dienstags und freitags bei der Trierer Tafel aus, 50 Meter Luftlinie entfernt, auf der anderen Seite der Straße.
Die Idee liegt eigentlich nahe. Die aktuelle Armutsausstellung in Trier liefert den Anlass, Kultur und Mittellosigkeit kommen sich an der Tufa räumlich nahe, der scheidende Karussell e.V. und sein Regisseur Roman Schmitz sind Spezialisten für innovatives gesellschaftspolitisches Theater.
Die 25-köpfige Schauspieler-Truppe besteht aus Studenten, Halbprofis, Rentnern, Tafel-Mitarbeitern sowie von Armut Betroffenen. Wobei letztere Gruppe, dem idealistischen Ansatz des Projekts zum Trotz, nur sehr vereinzelt vertreten ist. Authentisch wirkt es trotzdem - vielleicht weil heute auch Studenten und Rentner bisweilen von Armut gar nicht so weit entfernt leben.
Der Abend in der ausverkauften Tufa schafft das Kunststück, weit mehr zu werden als ein gutgemeintes Laienspiel. Das hat damit zu tun, dass die ästhetischen Ausdrucksmittel hohen Ansprüchen standhalten. Projektionen, Überblendungen, Licht, Requisiten, Umbauten: Das ist sorgfältig und professionell gemacht.
Schon der Start fesselt: Auf einer durchsichtigen Leinwand ist der Faulungsprozess einer Portion Erdbeeren zu sehen, die im Zeitraffer gefilmte Verwandlung vom appetitlich-roten Leckerbissen in eine Landschaft der Verwesung. Dazu singt ein Chor im Schatten-Halbriss "Vergammelte Speisen" von den Prinzen.
Überhaupt die Musik an diesem Abend: Die Auswahl ist schillernd, ironisch, subtil - und schlichtweg exzellent dargeboten. Noch ein Erfolgsgeheimnis.
Leises Spiel wirkt am stärksten


Das Stück bringt collageartige Szenen aus dem Dasein mit dem Armsein, zeigt Prototypen, aber keine Abziehbilder. Die Akteure dürfen schon mal wütend und laut werden, aber das Spiel wirkt stärker, wo es leise daherkommt: etwa bei der lakonischen Schilderung, wie das finanzielle Nicht-Mithalten-Können unsichtbare Mauern entstehen lässt, den Betroffenen unmerklich isoliert.
Vereinzelt ist die Grenze zum Tafel-Präsentationsabend etwas fließend, aber dann ist die Bissigkeit sofort wieder da. Wenn verlogene Lebensmittel-Werbespots gedreht werden, wenn die Sozialministerin mit ihren Bildungsgutscheinen einen saukomischen Ballettunterricht finanziert - dann ist der Sarkasmus erschütternd lebensnah und aktuell. So wie Eislers Lied von der Arbeiter-Einheitsfront, in dem keine Proleten mehr vorkommen, dafür aber Leiharbeiter.
Den komischen Höhepunkt und den größten Tiefgang zugleich erreicht das Stück mit der Persiflage auf eine Fernsehtalkshow. Bei Frank Plasberg diskutieren Karl Marx und Oswald von Nell-Breuning unter dem Titel "Bänker, Bosse und Banditen - wer hat Deutschland ruiniert?", und sie geraten dabei unversehens an eine zentrale Frage, die sich auch an die Tafeln, ihre Aktivisten und Unterstützer richtet: Wenn eine Gesellschaft Menschen, deren Einkommen nicht ausreicht, um sich am Markt zu bedienen, mit jenen Waren versorgt, die ansonsten weggeworfen werden müssten - ist das, mit Nell-Breuning, ein Akt tätiger Solidarität und Subsidiarität? Oder, mit Marx, ein besonders raffinierter Beitrag zur Stabilisierung eines ungerechten Systems?
Das Stück lässt die Frage offen. Es endet furios, mit dem chorartigen Herunterbeten der allseits bekannten Leitsätze eines gnadenlosen Wirtschaftsliberalismus, der in Geschrei endet. Und dann, als Zugabe und Ausrufezeichen, Reinhard Meys herrlich bösartige "Heiße Schlacht am kalten Büfett", die Schilderung eines dekadenten großen Fressens mit der Schlusspointe, dass zehn Prozent des Erlöses an Brot für die Welt gehen. Das ist zu wahr, um schön zu sein.
Weitere Vorstellungen: 14., 20., 21. Mai, 20 Uhr in der Tufa.

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