Arbeit und Leben in der Großregion Ausstellung widmet sich der Welt der Pendler

Esch-Belval · Hunderttausende pendeln jeden Tag zum Arbeiten nach Luxemburg. Trotz aller Gewohnheit ist das ein außergewöhnliches Phänomen. Dem spürt eine Ausstellung in Esch-Belval nun genauer nach.

Grenzgänger blicken anders aufs Leben – der Krankenpfleger Bastien arbeitet in Luxemburg und zahlt zuhause in Lothringen einen Kredit ab.

Grenzgänger blicken anders aufs Leben – der Krankenpfleger Bastien arbeitet in Luxemburg und zahlt zuhause in Lothringen einen Kredit ab.

Foto: Samuel Bollendorff

„Wir unternehmen mehr, wir fahren in den Urlaub, wir machen die tollsten Reisen. Dafür muss ich aber ständig Überstunden machen. (…) Sie sind auf uns angewiesen, denn der Luxemburger will meinen Beruf nicht machen.“ Michaël ist Franzose und arbeitet als Maschinenführer in Luxemburg. Er ist einer von Hunderttausenden, die jeden Tag nach Luxemburg zum Arbeiten fahren. Dabei macht er besondere Erfahrungen. Auf intensive Weise mehr darüber erfahren kann man jetzt in der Ausstellung „Frontaliers. Des vies en stéréo“ (Grenzgänger – Leben in Stereo) in Esch-Belval.

Nach Angaben der Luxemburger Statistikbehörde Statec haben 2021 insgesamt 212 000 Grenzgänger im Großherzogtum gearbeitet. Das entspricht 46 Prozent der Arbeitnehmer im Land. 50 000 kommen aus Deutschland, 49 500 aus Belgien, mit 112 000 kommen aber die meisten aus Frankreich.

Die meisten Luxemburg-Pendler leben in Lothringen, manche grenznah in Audun-le-Tiche oder nah am Saarland in Saargemünd. Die Luxemburger Sozialversicherungsnummer eint sie, aber gibt es sie – die typischen Luxemburg-Pendler aus Frankreich? Was treibt sie dazu, jeden Tag zwischen ein bis drei Stunden zur Arbeit zu fahren? Und welche Arbeitsmentalität erwartet sie dort?

Der Regisseur Mehdi Ahoudig und der Fotograf und Filmemacher Samuel Bollendorff aus Frankreich wollten das genau wissen und haben sich auf die Suche gemacht. „Wir haben die Grenzgänger auf viele verschiedene Weisen gesucht, über Rathäuser, in Bistros, über Vereine, wir sind in die Siedlungen gefahren, haben mit etwa hundert gesprochen und die stärksten Momente ihrer Berichte ausgewählt“, sagt Bollendorf. Gut einem Dutzend begegnet man in der Ausstellung.

Ahoudig und Bollendorf stellen die Ergebnisse ihrer Suche und der Begegnungen geradezu dokumentarisch vor. Der Clou: Die Ausstellung funktioniert so weniger über Fotos und Texte, sondern über kleine Filme aus dem Alltag der Grenzgängerinnen und Grenzgänger und ihre eingesprochenen Gedankengänge. Mit Kopfhörern geht es in die Ausstellung, in der auf großen Leinwänden kurze Filme laufen und gezeigte Fotos teilweise auch animiert sind.

Klarer Höhepunkt der Ausstellung, der das Publikum kurz in die Pendlerwelt eintauchen lässt: In einem dunklen Raum stehen vier Autos, in die man sich unbedingt reinsetzen sollte. In ihnen werden auf die Frontscheibe die Ausschnitte aus vier verschiedenen Grenzgänger-Leben projiziert, im Ohr hört man sie über sehr kurze Nächte, bösartiges Management und kaum vergleichbares Gehaltsglück berichten. Wer nicht nach Luxemburg pendelt, bekommt hier einen realistischen Eindruck; wer es hingegen tut, wird sich auf die eine oder andere Weise wiederfinden – und wenn es nur beim Blick auf das Abspulen des Mittelstreifens einer karg-nebeligen Autobahn auf der Frontscheibe des Autos ist.

Kleiner Wermutstropfen für nicht-französischsprachiges Publikum: Die Berichte der Grenzgängerinnen und Grenzgänger erklingen über die Kopfhörer auf Französisch; in der deutschen Broschüre am Eingang findet man aber alle Berichte übersetzt zum Mitlesen.

Viele Grenzgängerinnen und Grenzgänger finden in Frankreich keinen so gut bezahlten Job, viele in Nordlothringen auch gar keinen Job in ihrer Branche. In Luxemburg bieten sich Chancen, schneller etwas aufzubauen, so geht es zumindest Maschinenführer Michaël, der erzählt: „Innerhalb von zwei Jahren habe ich geheiratet, das Haus gekauft und nun ist auch ein Kind unterwegs. (…) Hätten wir das alles so schnell geschafft, wenn ich in Frankreich geblieben wäre? Da bin ich mir nicht so sicher.“

Krankenschwester Cindy berichtet von über den Job hinausgehenden Herausforderungen: „Eigentlich sollte ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag bekommen, doch in letzter Sekunde wurde mir dann gesagt, ich müsste dafür das Niveau B2 in Luxemburgisch beherrschen. Von Dezember bis April hatte ich also kein Leben: Ich ging arbeiten, Luxemburgisch lernen, arbeiten…“ Für die ehemalige Fondsbuchhalterin Alexandra hingegen wurde der Druck im Job zu hoch, sie kündigt nach einem Burn-out: „Seitdem bin ich arbeitslos. Ich wollte wieder in Frankreich arbeiten. Aber nach intensiver Suche hat sich herausgestellt, dass dies nicht möglich ist.“

Der Ausstellung gehen zweieinhalb Jahre Arbeit voraus. Der Auftrag für die Ausstellung kam Ende 2019. „Wir hatten ungewöhnlich viel Zeit für das Projekt, was uns eine bessere Qualität ermöglicht hat und wodurch neben der Ausstellung auch eine Broschüre und ein Film entstanden sind“, sagt Ahoudig. Der daraus entstandene Dokumentarfilm „Il était une fois dans l‘Est“ wird unter anderem im französischen Fernsehen auf France 3 Grand Est (am 10. November) und lokalen Kinos ausgestrahlt. Ahoudig und Bollendorff haben in den vergangenen Jahren bereits mehrfach zusammengearbeitet.

Die dokumentarische Arbeit der Ausstellung geht in Tiefen der Pendlerseele, entlockt den Befragten Pragmatismus, Ängste, Hoffnungen, Verletzungen und Stolz. Zwei Aspekte kommen aber zu kurz, und zwar die soziologische und kulturelle Dimension. Pendeln über die Grenze umfasst nicht nur Beruf, Plackerei und Geld, sondern betrifft auch Familie, Freizeit, Freunde und Kulturberührungen. 

Wie Angehörige das Pendlerdasein erleben, kommt immerhin in einem Bericht einer Frau zum Tragen, deren Partner im Großherzogtum arbeitet und viele Überstunden macht. Was auch zu knapp thematisiert wird, aber für viele Luxemburg-Pendler zum entscheidenden Thema werden kann, ist der Faktor Zeit. Mehrere Stunden pro Tag in Bus, Auto, Zug – oder für Viele auch in einer Kombination daraus –, das ist auf Woche, Monat, Jahr viel Zeit, die für Familien, Hobbys oder Schlaf dauerhaft fehlen.

Die künstlerisch-dokumentarische Umsetzung auch dieser Punkte hätte die Ausstellung noch vielschichtiger gemacht. Genauso wie Berichte über die Chance, Leute und Kultur des Nachbarlandes von innen heraus kennenzulernen; neue Freundschaften zu schließen und eine andere Lebensart zu erfahren. Dennoch ist „Frontaliers. Des vies en stéréo“ eine aufschlussreiche, berührende und sehenswerte Ausstellung. Für Grenzgehende und Nicht-Grenzgehende gleichermaßen.

Ausstellung „Frontaliers. Des viesen stéréo“ bis 5. Februar in der Massenoire in Esch-Belval. Im Oktober täglich geöffnet von 11 bis 19 Uhr, ab November bis 18 Uhr täglich geöffnet; dienstags immer geschlossen. Zugang über Visitor Centre Esch2022, 3, Avenue des Hauts-Fourneaux, Esch-sur-Alzette. Die Ausstellung wird durch Workshops ergänzt. Anmeldungen unter Esch2022.lu

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