Fast zehn Millionen Besucher Tagesausflug nach Luxemburg: Darum lohnt sich ein Besuch der „Family of Man“
Clervaux · Keine andere Foto-Ausstellung wurde weltweit von mehr Menschen gesehen: Seit 30 Jahren ist „The Family of Man“ im Großherzogtum zu Hause. Sie waren dort noch nicht? Zu Besuch im Schloss Clervaux.
Ach je, Schwarz-Weiß-Bilder. Ist doch total veraltete Technik. Und überhaupt: Fotografie ist doch keine Kunst, Herr Steichen, also mal im Ernst. Gehen Sie weiter, es wird hier nichts zu sehen geben!
Nein, keine Sorge, das sagt kein Ignorant der 2020er, kein Boomer und kein Millennial. So ungefähr wurde Edward Steichen empfangen, als er Anfang der 1950er in sein Geburtsland Luxemburg kam, um Werbung für „The Family of Man“ zu machen. Steichen – schon über 70 – war nicht irgendwer: Direktor der Fotografie-Abteilung beim Museum of Modern Art in New York, einer der bedeutendsten Fotografen der Welt.
Und die von ihm kuratierte Ausstellung – mit 503 Aufnahmen von 273 Fotografinnen und Fotografen aus 68 Ländern – sollte kurz darauf alle Rekorde sprengen. „The Family of Man“ ging nach dem gewaltigen Erfolg in New York in mehreren Wanderversionen rund um die Welt. Sie galt als das größte Fotografie-Vorhaben aller Zeiten. Steichen sondierte mit seinem Team drei bis vier Millionen Fotos aus aller Welt. Was berührt, was erlaubt eine neue Perspektive, was überrascht? Ein humanistisches Statement in Zeiten des Kalten Krieges: Die Menschen verbindet viel mehr als sie trennt. Immer. Überall. Nur nicht so plump in die Tastatur geklackert, sondern mit ästhetischem Anspruch.
Bis heute wurde keine Foto-Ausstellung von mehr Menschen gesehen, zwischen neun und zehn Millionen sollen es sein. In Luxemburg hätte die Welt-Tour beginnen können, wenn es nach Steichen gegangen wäre. Ging es aber nicht.
Family of Man kommt doch noch in Luxemburg an
Aber es gibt ja zum Glück ein Happy End. Und das führt in den Norden des Landes, ins Ardennen-Städtchen Clervaux. Gut 80 Kilometer von Trier entfernt, rund 150 von Saarbrücken. Da gibt es viel Landschaft, bestimmt viel zu erwandern – und eben das einzige Weltdokumentenerbe Luxemburgs, liebevoll im Schloss untergebracht. Und das ziemlich nah an der Original-Ausstellung in New York – die architektonischen Voraussetzungen sind im MoMA und in einem spätmittelalterlichen Schloss natürlich unterschiedlich. Die Family-of-Man-Ausstellung ist seit 1994 dauerhaft dort untergebracht. 1966 hatte das Großherzogtum die letzte noch bestehende Wanderversion der Ausstellung von den USA als Geschenk bekommen, so wie es sich Edward Steichen – er starb 1973 – gewünscht hatte.
„Eine Zeitkapsel“
„Der Prophet im eigenen Land...“, so nennt es Gilles Wunsch, der durch die Ausstellung führt. Nein, Steichen sei erst mal nicht so wirklich willkommen gewesen, damals. Aber das hat sich in Luxemburg über die Jahrzehnte geändert.
Die Fotos sind (fast) alle original, waren schon in den 60ern in der Welt unterwegs, auf Holz geklebt, von etwa DIN-A4-klein bis drei mal vier Meter groß. Zwei seien zwischenzeitlich ersetzt worden. „Ein Original-Foto, das Steichens Mutter zeigt, wurde vor einigen Jahren geklaut“, berichtet Wunsch. Ein anderes Bild wurde durch die Position im Raum immer wieder mal versehentlich beschädigt.
„Die Ausstellung ist eine Zeitkapsel“, sagt Gilles Wunsch. „Sie zeigt die Welt, wie sie im Jahr 1952 war.“ Vieles, was heute unseren Alltag dominiert, gab es nicht: keine Computer, keine Smartphones. Aber das spielt auch keine Rolle. Denn auch wenn von den vielen, vielen Menschen auf den über 500 ausgestellten Bildern heute nur noch die wenigsten leben, so hat „The Family of Man“ immer noch die einzigartige Gabe, Menschen zu berühren. Weil sich an den Themen ja wenig bis nichts geändert hat – die Liebe, die Armut, die Freundschaft, der Krieg, die Arbeit, die Trauer, der Tod. Alles ist noch da, nur reflektiert in anderen Augen. Es sind Bilder aus der ganzen Welt, von Hobby- und Star-Fotografen, wichtig war: der Mensch, der Moment. Die Ausstellung erklärt sich fast von selbst, eine kurze Zeile reicht. Auch wenn jedes Bild seine eigene Geschichte hat.
„Dieses etwa“, sagt Wunsch und zeigt auf ein Foto bei einer Geburt, Mutter mit neugeborenem Jungen, noch mit Nabelschnur. Das habe Wayne Miller gemacht, Steichens Co-Kurator, „bei der Geburt seines Sohns“, das habe ihm Miller selbst vor Ort bestätigt. Dann habe er auf den Mann links im Bild gezeigt, Arzt oder Geburtshelfer: „Miller zeigte auf ihn und sagte: Das hat er gut gemacht, mein Schwiegervater!’“
Auch anderes überrascht, nicht nur die Emotionen, die manches Bild auslösen kann. Zum Beispiel: Moment, da hängt doch das Cover-Artwork vom aktuellen Album der erfolgreichen Punkrockband Pascow (St. Wendel/Trier). Ein Porträt von einem Mädchen aus den 1930ern, fotografiert von Dorothea Lange. Es könnte auch aus den 2020ern sein. „The Family of Man“ ist eben mehr als eine Zeitreise - es ist auch ein Trip in die Zeitlosigkeit.
Vermächtnis eines großen Fotografen aus Luxemburg
Die Ausstellung ist das eindrucksvolle Vermächtnis eines Mannes, der als knapp Zweijähriger mit seinen Eltern aus Bivingen in die USA ausgewandert war. Der es mit Ehrgeiz und Können nach oben schafft, der sich in Europa mit Picasso und Rodin anfreundet, der die Fotografie als Kunstform voranbringt. „Das sieht man schon daran, wer Steichen alles geschätzt hat – von Gerhard Richter zu Karl Lagerfeld, von Angela Davis bis Max Horkheimer“, sagt der emeritierte Trierer Amerikanistik-Professor Gerd Hurm, der eine Monografie über Steichen veröffentlicht hat. Steichen sei ein ganz wichtiger Pionier in der Kunst. Aber nicht nur dort: „Er setzte sich ein für Menschenrechte und gegen Unterdrückung, für Pazifismus und gegen nukleare Zerstörung, für Toleranz und gegen Faschismus, für Frauenrechte und gegen Sexismus, für Ökologie und gegen Naturzerstörung.“ Hurm fasziniert gerade diese Vielfalt.
Fotografie ist keine eigene Kunstform? Das wäre heute eine sehr exklusive Meinung (auch wenn das umgekehrt nicht bedeutet, dass jedes Bild Kunst ist). Kleiner Funfact: Edward Steichens seltenes Foto „The Flatiron“ aus dem Jahr wurde vor zwei Jahren in New York für 11,8 Millionen Euro versteigert.