Interview mit Ökonom Vincent Hein von der Idea Foundation „Es wird künftig mehr Verlierer geben“

Interview | Luxemburg · Durch Homeoffice verliert der Luxemburger Handel täglich 350 Millionen Euro. Vorschlag: Alle zahlen in einen Entwicklungsfonds ein.

 Bummeln in der Innenstadt von Luxemburg. Durch Homeoffice wird auch die Frequenz in der Hauptstadt zurückgehen, mit Konsequenzen für Handel und Gastronomie.

Bummeln in der Innenstadt von Luxemburg. Durch Homeoffice wird auch die Frequenz in der Hauptstadt zurückgehen, mit Konsequenzen für Handel und Gastronomie.

Foto: vetter friedemann

Im vergangenen Jahr haben europaweit in Luxemburg die meisten Menschen in Telearbeit gearbeitet. Nur in Finnland saßen noch mehr Beschäftigte zu Hause vorm Rechner. Im ersten Lockdown Anfang Mai lag der Anteil bei immerhin 69 Prozent. Im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet betrifft dies auch Tausende Grenzgänger. Das Homeoffice hat die Situation auf Luxemburgs Straßen massiv entlastet. Immerhin zwei Tage und neun Stunden weniger haben die Pendler im Stau gestanden. Doch wie geht es künftig weiter? Welche Folgen hat die Arbeit im Homeoffice für die Luxemburger Wirtschaft, aber auch für die Staatseinnahmen? Wir haben mit Vincent Hein, Wirtschaftswissenschaftler bei der luxemburgischen Denkfabrik Idea Foundation, gesprochen. Er analysiert regelmäßig die Luxemburger Wirtschaft und Folgen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. 

Inwiefern wird der Standort fürs Arbeiten in Zukunft unwichtiger?

Vincent Hein: Forscher der University of Chicago haben in Studien den Anteil der Telearbeitsplätze in verschiedenen Branchen untersucht. Luxemburgs wirtschaftliche Spezialisierung auf den Dienstleistungssektor ermöglicht es, einen Anteil von theoretisch 53 Prozent an Homeoffice-Plätzen zu schaffen. Das liegt über dem Durchschnitt der meisten Länder. Die aktuelle Praxis über mehr als ein Jahr hat für  Arbeitgeber und Arbeitnehmer Vor- und Nachteile aufgezeigt. Es ist jedoch ziemlich sicher, dass die Telearbeit weiter entwickelt sein wird als vor der Pandemie.

Was bedeutet das für große Dienstleistungszentren wie Luxemburg in Bezug auf Immobilien, Steuern und Konsum?

Hein: Der Büroimmobilienmarkt dürfte in Zukunft weniger unter Druck geraten. Aber das alles ist noch sehr theoretisch, denn dazu wäre es notwendig, dass die Mitarbeiter nicht alle an den gleichen Tagen Telearbeit machen. Ein weniger angespannter Büroimmobilienmarkt könnte dazu beitragen, das Wohnungsangebot auszuweiten. Aber in Luxemburg, wo die Spannungen aufgrund des Wachstums sehr hoch sind, sollte man keine radikalen Veränderungen erwarten.

Aus wirtschaftlicher und steuerlicher Sicht macht der grenzüberschreitende Kontext die Dinge komplexer als in einer „nationalen“ Metropole. Bei der Telearbeit kommt es zu einer geografischen Verlagerung des Konsums zulasten der Dienstleistungszentren und zugunsten der Wohngebiete. An Telearbeitstagen konsumieren sie mehr rund um ihren Lebensort in Restaurants, in der chemischen Reinigung oder in einem Fitnessstudio. Wenn die Metropole „national“ ist, bleibt alles im Land. Wenn die Metropole grenzüberschreitend ist, „verlässt“ dieses Geld das Land, dies hat Auswirkungen auf Vermögensbildung und Steuereinnahmen.

Was bedeutet das konkret für Luxemburg?

Hein: Der luxemburgische Wirtschafts- und Sozialrat schätzt, dass bei einer Telearbeit von 116 000 Grenzgängern an einem Tag in der Woche dies 350 Millionen Euro Umsatz im Handel kosten könnte und damit wahrscheinlich genauso viel in Grenzgebieten gewonnen wird. Wenn Arbeitnehmer eine bestimmte Anzahl von Tagen der Telearbeit überschreiten, werden sie darüber hinaus an den Tagen, die diesen Schwellenwert überschreiten (19 Tage für Einwohner Deutschlands, 24 Tage in Belgien und 29 Tage in Frankreich), in ihrem Wohnsitzland besteuert und nicht in ihrem Arbeitsland, was einen Teil des steuerlichen Gewinns verdrängen könnte, von dem Luxemburg profitiert.

Was müsste von luxemburgischer Seite getan werden?

Hein: Im Vergleich zu anderen Dienstleistungsmetropolen hat Luxemburg eine zusätzliche Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem grenzüberschreitenden Kontext. Wenn Telearbeit an zwei oder drei Tagen in der Woche zu einer neuen „Norm“ wird, dann kommt es zu einer Wettbewerbsverzerrung zwischen Luxemburg und den „nationalen“ Metropolen, da mehr als 25 Prozent der Arbeitszeit außerhalb Luxemburgs geleistet wird, Arbeitnehmer verlieren ihren Anschluss an die luxemburgische Sozialversicherung. Es ist eine europäische Verordnung, die dieses Prinzip vorgibt. Luxemburg wird daher mit den Nachbarstaaten einen Rahmen aushandeln müssen, der eine Überschreitung dieser Schwelle unter noch festzulegenden Bedingungen ermöglicht.

Gerade für Grenzgänger ist Telearbeit eine Option geworden, zumal in der Corona-Pandemie. Ist dies eine Vorbildlösung für die Zukunft?

Hein: Es liegt nahe, an diese Lösung zu denken, wenn wir die Mobilitätsprobleme im grenzüberschreitenden Ballungsraum Luxemburg, aber auch die Wirtschaftswachstums- und Beschäftigungsprognosen für die kommenden Jahre sehen. Aber es wird auch weiterhin notwendig sein, in Infrastrukturen mit höherer Kapazität und in einen zusammenhängenderen Flächennutzungsplan zu investieren, um Lebensorte näher an Arbeitsplätze und Konsumorte zu bringen. Die Lebensqualität wird zweifellos mehr Telearbeit erfordern, aber es wird nicht die einzige Wunderlösung sein.

Das Thema Besteuerung von Grenzgängern ist ein heikles. Einerseits profitieren Luxemburger Staat und Wirtschaft von der Arbeit der Grenzgänger, andererseits gehen den Heimatländern Einnahmen verloren, die sie für den Erhalt von Straßen und Schulen brauchen. Wie kann man diesen Konflikt auflösen?

Hein: Ich habe bereits einen Vorschlag gemacht, der alle Parteien versöhnen würde. Zum Zeitpunkt der Pandemie ermöglichte die Aufhebung der steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Schwellenwerte für Grenzgänger den luxemburgischen Unternehmen die Aufrechterhaltung ihrer Tätigkeit durch massive Telearbeit. In gewisser Weise haben die Nachbarländer gegenüber dem Großherzogtum fiskalische Solidarität gezeigt.

Geradezu provokant ist das in der öffentlichen Debatte zuweilen zu hörende Element, die Nachbarstaaten aufzufordern, die Freigrenzen entschädigungslos nach oben zu erhöhen. Um aus dieser heiklen Steuerfrage herauszukommen, wäre eine der Lösungen, mit den Nachbarstaaten über eine gerechte Verteilung der auf die Telearbeit von Grenzgängern erhobenen Steuer zu verhandeln.

Diese könnten im Gegenzug in einen gemeinsamen Entwicklungsfonds einzahlen – quasi als Gegenleistung für die Anhebung der geltenden Steuergrenzen. Diese Mittel, die auch von Nachbarländern oder -regionen ergänzt würden, könnten Mobilitätsinfrastrukturen, Ausbildungsprojekte, kommunale Ausrüstungen auf beiden Seiten der Grenzen finanzieren, sofern sie dazu beitragen, das grenzüberschreitende Territorium zusammenzuführen und attraktiver zu machen.

Inwiefern müssen alle Beteiligten Kompromisse eingehen?

Hein: Es muss ganz klar gesagt werden, dass es bei einer Zunahme der Telearbeit nach der Pandemie nicht nur „Win-win“-Phänomene geben wird. Die Grenzgebiete werden Gewinner sein, weil sie sich in lebendigere Gebiete verwandeln und nicht nur in Wohnheimstädte. Persönliche Dienste werden von der Anwesenheit von Telearbeitern profitieren. Dies wird wirtschaftliche Aktivität, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen schaffen. Aber es wird ein Verlust für Luxemburg sein, wie wir oben erwähnt haben.

Auf der anderen Seite werden die Grenzgebiete Zugeständnisse machen müssen, weil der Wettbewerb um qualifiziertes Personal in lokalen Unternehmen insofern härter wird, als es neben der Höhe der Sozialabgaben relativ attraktiver ist, für ein luxemburgisches Unternehmen zu arbeiten, ganz zu schweigen davon, dass die Sozialbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber dort niedriger sind. Es ist ein Prozess, der heute beginnen muss, indem alle Argumente ohne Tabus auf den Tisch gelegt werden. Das ist etwas Neues im grenzüberschreitenden Kooperationsprozess, man muss zugeben, dass sich seit der Gründung der Großregion in den 1990er Jahren viel getan hat, sich aber fast immer auf Projekte beschränkt hat, bei denen es nur Gewinner gab. In diesem Thema gibt es aber Gewinner und Verlierer, deren Aspekte sich überschneiden. Ich denke, wir müssen mit bilateralen Verhandlungen beginnen, damit die Kompromissbildung eine Chance auf Erfolg hat.

Wie sieht Ihr Ideal für den grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt in der Großregion aus?

Hein: Ich glaube, dass es kurzfristig nicht möglich sein wird, das Attraktivitätsgefälle zwischen Luxemburg und den Nachbargebieten deutlich zu verringern. Aber wir müssen die wirtschaftliche Entwicklung auf beiden Seiten der Grenze mittelfristig wieder ins Gleichgewicht bringen. Denn das aktuelle Modell ist nur kurzfristig tragfähig. Auf dem Wohnungsmarkt und auf den Straßen sehen wir schon die Grenzen, vielleicht gibt es noch andere, wie zum Beispiel den Arbeitskräftemangel.

Der für eine Volkswirtschaft gesunde „War for Talents“ (Kampf um Talente) zwischen den Unternehmen darf nicht in einen „War for Talents“ zwischen den Territorien verwandelt werden, denn er führt zu Rückverschiebungen der Grenzen. Sollte der Großraum Luxemburg insgesamt an Attraktivität verlieren, wäre dies für das Großherzogtum ein existenzielles Problem, aber nur ein Randproblem ohne große strategische Bedeutung für die deutschen, französischen und belgischen Volkswirtschaften.

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