Als Zaungast durch die Wirtschaftswunder-Jahre

BERNKASTEL-KUES. (red) In unserer Serie "Stadtgeschichten" erinnert sich Petra Stähr aus Bernkastel-Kues an die mageren Jahre nach dem Krieg.

Ich gehöre zu den Nachkriegskindern, die sich noch sehr gut an die "mageren" Jahre erinnern können. In Thüringen geboren, der damaligen sowjetischen Besatzungszone, habe ich das Wirtschaftswunder im Westen nur als Zaungast erlebt. Es war im Juni 1953 - ich war knapp acht Jahre alt -, als ich mit meiner Großmutter für ein paar Tage zu ihrer Schwägerin Paula nach Berlin-Charlottenburg fuhr, wo diese als Krankenschwester tätig war. Unsere Reise führte uns zuerst durch den Ostteil Berlins. Als in einer Kleinstadt Thüringens aufwachsendes Kind kannte ich nur ein, zwei kriegszerstörte Häuser, deshalb faszinierten mich die kilometerlangen, zerstörten Häuserreihen. Wo man hinsah: Ruinen, schlecht gekleidete Menschen mit Rucksäcken, Handwagen ziehend, meistens Frauen, Männer in alten Militärmänteln, alles Grau in Grau. Irgendwann die beklemmende Situation am Grenzübergang und dann: Haltestelle Charlottenburg. Als ich aus dem Zug stieg, glaubte ich mich plötzlich im Schlaraffenland, erblickte ich doch auf dem Bahnsteig einen großen Obststand mit den herrlichsten Früchten, vor allem mit den ganz, ganz selten gesehenen und genossenen Südfrüchten. In der Angst, dass jetzt nun alle Leute zu diesem Stand stürzen und alles wegkaufen würden - so wie ich das ja aus der DDR kannte - rief ich meiner Oma zu: "Schnell, schnell, kauf! Ehe alles alle ist!" Ein Bahnangestellter sagte schmunzelnd: "Dass ihr aus der Zone kommt, das merkt man aber gleich!" Bei Tante Paula im Schwesternheim gefiel es mir auch sehr gut, denn ich wurde verwöhnt mit all den für DDR-Kinder so raren Dingen: Es gab eine ganze Tafel Schokolade für mich allein, ich durfte mich an Bananen und Apfelsinen satt essen, im Bad wusch ich mich mit herrlich duftender Palmolive-Seife. Am Kurfürstendamm genoss ich in einem Straßencafé den ersten und schönsten Eisbecher meines Lebens und staunte über die herrlichen Auslagen und geschmackvollen Dekorationen in den Schaufenstern. Zu meiner großen Enttäuschung ging dieser Besuch schneller als vorgesehen zu Ende. Schuld daran waren die sich ankündigenden Vorkommnisse des 17. Juni. Oma hatte keine Ruhe mehr, sie wollte unbedingt nach Hause, zur Familie. Im Kaufhaus des Westens hatte sie jede Menge wunderschöner Sommerstoffe sowie Wolle gekauft. Aus Angst, dass man ihr diese Schätze an der Grenze wegnehmen könnte, wickelte sie sich die Stoffe um den Leib, mit der Wolle stopfte sie sich den Busen aus. In den "goldenen Fünfzigern" hatte ich noch zweimal die Gelegenheit, in den Westen zu fahren - zu Verwandten und zu den ehemaligen Quartiersleuten meines Vaters im Westerwald. Letztere lebten sehr idyllisch auf einem Dorf, und für mich als Stadtkind war dies der Himmel auf Erden. Statt eines Tuchs ein Geschenk für den Onkel

Mit Vorliebe ging ich für unsere Gastgeber und deren Nachbarn in das kleine Lebensmittelgeschäft einkaufen, denn erstens kriegte ich dort immer Bonbons und den beliebten Kaugummi geschenkt, und zweitens bekam ich für meine Hilfe von den Leuten meist einige Pfennige zugesteckt. Die sammelte ich fleißig, denn ich wollte mir gerne davon ein damals so modernes Nicky-Tuch kaufen. Irgendwann waren es über vier Mark geworden. Doch da bat mich meine Mutter mit ganz traurigen Augen, das Geld doch ihr zu überlassen für ein Geschenk für Onkel Hoffmann, der einige Tage später Geburtstag hatte. Da der Umtausch damals schwarz geschah - der Satz war mit eins zu fünf damals sehr hoch - und meiner Eltern sehr wenig Geld hatten, konnte meine Mutter bei der Einreise nur 25 Ostmark umtauschen. Die läppischen 5 D-Mark waren sehr schnell ausgegeben, und nun brauchte sie ein Geschenk. Schweren Herzens verzichtete ich auf mein mühselig zusammengespartes "Vermögen", aber ich sah die Notwendigkeit ein. Mein Nicky-Tuch habe ich aber trotzdem nach einiger Zeit noch bekommen! Später, als die Mauer kam, hatten wir jahrelang zu Verwandten und Freunden nur die Verbindung per Post, noch nicht einmal per Telefon. Und es gab ja auch das Fernsehen, um sich zu informieren und mit großen Augen und Ohren den Fortschritt auf der anderen Seite der Mauer zu verfolgen. Und wenn in der Weihnachtszeit der Postbote an der Tür klingelte und ein Paket von unseren Lieben abgab, dann war die Freude riesengroß. Jeder, der das Glück hatte, Westbeziehungen zu haben, wurde glühend beneidet. Der sichtbare Aufschwung im Westen verführte aber auch viele meiner Landsleute dazu, die Verhältnisse durch die rosarote Brille zu sehen und sich ein ganz unrealistisches Bild vom Leben und Treiben "da drüben" zu machen. Leider war es auch in vielen Fällen das rein materialistische Denken, das bei meinen DDR-Landsleuten überwog. Dass sie wie unmündige Kinder, ja, wie Sklaven gehalten wurden, die bei Strafe die Landesgrenzen nicht übertreten durften und sogar mit dem Tod rechnen mussten, hat viele nicht sonderlich bedrückt. Andres war es bei meiner Familie und mir: Uns wurde die Luft zum Atmen dort bald zu dünn, wir stellten Ausreiseantrag und kamen nach Jahren des Kampfes gegen die staatlichen Organe frei. Das geschah vor nunmehr 30 Jahren, und das war "unser Tag der Befreiung".

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