Bannmeile um den Heimatort

HINZERATH. Irene Albert hat nur noch wenig persönliche Habe und darf weder Handy noch Auto besitzen. Und vor allem darf sie zwei Jahre ihren Heimatort nicht aufsuchen. Der Grund: Die 26-jährige Goldschmiede-Gesellin befindet sich "auf der Walz".

Dass Irene Albert auf Wanderschaft ist, ist ungewöhnlich. Obwohl im Mittelalter fast alle Handwerks-Gesellen "auf die Walz" gingen, kennt man es heute vor allem noch bei Zimmerleuten, die es nach der bestandenen Gesellenprüfung in die Ferne zieht. Ein Goldschmied auf der Walz, noch dazu ein weiblicher, ist eine Seltenheit. Von den rund 700 Wandergesellen in Deutschland sind nach Schätzung Alberts rund zehn bis 15 Prozent Frauen. Im Gegensatz zu früher gibt es heute keine Reisepflicht für Gesellen mehr. Im Mittelalter sei die abgeschlossene Walz eine Bedingung gewesen, um den Meisterbrief machen zu können. Als die ledige Goldschmiede-Gesellin nach abgeschlossener Lehre vor knapp zwei Jahren mit nur fünf Euro in der Tasche für "zwei Jahre und einen Tag" auf Wanderschaft ging, hatte sie schon einiges hinter sich. Sie hatte ihre Wohnung in Hanau aufgelöst, ihre ganze Habe aussortiert und vieles weggeworfen. Lediglich ihr Werkzeug, Bücher und Kleidung stellte sie unter. Alles, was sie bei sich hat - inklusive Schlafsack -, passt in ein Bündel, den so genannten Charlottenburger, oder kurz "Charlie". Was sie zum Lebensunterhalt braucht, muss sie sich verdienen. Überall, wo sie gerade ist, klopft sie an die Türen von Goldschmiede-Meistern und fragt nach Arbeit. Derzeit ist sie für Alfred Becker in Idar-Ober-stein tätig und kam durch Zufall auch nach Hinzerath. Wer seinen Besitz komplett bei sich tragen muss, hat keinen Platz für Luxus. Oder vielmehr fast keinen. "Denn jeder hat ein Teil dabei, das er nicht zwingend braucht", verrät sie. Bei Irene Albert reisen ihre Jonglierbälle, so genannte "Pois", mit. Wanderschaft, das heißt für die 26-Jährige "Reduzieren auf das Wesentliche". Auf der Straße habe sie gelernt, dass es viele Dinge gibt, die wichtiger seien als Besitz: tägliche Momente des Glücks und intensive Gespräche. Ihren Heimatort darf sie während der Walz nicht betreten. Und nicht nur das: Sie darf sich ihm nur auf 50 Kilometer nähern. Das ist hart, vor allem für die Familie. Denn die weiß manchmal wochenlang nicht, wo sie steckt. Zwei Jahre ist Irene Albert bereits unterwegs und ganz schön herumgekommen. Stempel in ihrem Wanderbuch verraten, dass es sie bis nach Nordschweden verschlug. "Ich wollte Schnee sehen", erinnert sie sich an den Winter, der lange nicht weiß werden wollte. Und was wünscht man einer sympathischen Wandergesellin beim Abschied? Wer schlicht "viel Glück" sagt, beweist eine Bildungslücke. Richtig heißt es: "Fixe Tippelei!"

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