Das Grauen in der Frühe

Es wird mal Zeit, dass ich mich oute. Im Bekanntenkreis gelte ich gemeinhin als besonnen und sozialverträglich. Aber mehrfach in der Woche verwandle ich mich vom friedlichen Dr. Jekyll in einen grantelnden, Schimpfworte ausstoßenden Mr. Hyde - und das in Anwesenheit meiner Kinder.

Die grausige Wandlung passiert frühmorgens oder um die Mittagszeit im Auto auf dem Schulweg. Sie beginnt vor der ersten Ampel, wenn mein Vordermann 100 Meter vor dem knallgrünen Signal prophylaktisch abbremst, weil die Lichtanlage ja eventuell auf rot umschalten könnte. Nachdem er auf diese Weise tatsächlich die Grünphase verpasst hat, lässt der Volant-Künstler beim Wiederanfahren mindestens 15 Meter Platz zum Vordermann, damit möglichst wenige der Nachfolgenden durchkommen. Sodann setzt er sich am Moselufer auf die linke Spur, um zu vermeiden, dass er zwischen Feyen und der Römerbrücke den Fahrstreifen wechseln muss. Auf der Überholspur schlurft er fürderhin mit Minimalgeschwindigkeit dahin. Irgendwann platzt mir dann in der Regel der Kragen. Ich kann nämlich nicht verstehen, warum manche Verkehrsteilnehmer glauben, sie hätten eine Art verbrieftes Recht, andere unter ihrer Schlafmützigkeit leiden zu lassen. Und dann fange ich an, lautstark auf die Trödler zu schimpfen. Bis ich im Rückspiegel schlechten Gewissens meine jugendlichen Mitfahrer sehe. Aber dann sagt meine Älteste cool: "Papa, mach dir nix draus, Mama flucht meistens noch viel schlimmer". Und das tröstet doch enorm.

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