Der Hölle von Stalingrad entkommen

IRMENACH. 250 000 Soldaten der deutschen Wehrmacht kämpften vor 60 Jahren im Kessel von Stalingrad in der blutigsten Schlacht der Geschichte. Einer von ihnen war Fritz Schmidt aus Irmenach. "Ich hatte einen Schutzengel wie kein anderer", sagt der heute 80-Jährige, der der Hölle von Stalingrad noch vor der Kapitulation der 6. Armee am 2. Februar 1943 entkommen konnte.

 Fritz Schmidt aus Irmenach stöbert in Erinnerungen. Viele Fotos hat er noch aus seiner Soldatenzeit, und seine Erlebnisse in Stalingrad will er auch in einem Buch festhalten.Foto: Gerda Knorrn-Belitz

Fritz Schmidt aus Irmenach stöbert in Erinnerungen. Viele Fotos hat er noch aus seiner Soldatenzeit, und seine Erlebnisse in Stalingrad will er auch in einem Buch festhalten.Foto: Gerda Knorrn-Belitz

Mit 18 Jahren wird der gebürtige Horbrucher Fritz Schmidt zum Militär eingezogen. Nach der Ausbildung in Frankreich kommt er im Sommer 1942 zu einer Einheit schwerer Artillerie in die Ukraine und von dort geht es weiter in den Osten, nach Stalingrad. "Am 19. November 1942 begann sich der Kessel zu schließen", erinnert sich der Rentner. Die Verpflegung für die Soldaten im Dezember 1942 sind es 100 Gramm Brot pro Tag und eine dünne Suppe wird immer knapper, bis es gar nichts mehr zu essen gibt. Schnee wird geschmolzen und das Wasser getrunken. Ohne Winterbekleidung und mit durchlöcherten Socken, "durch die man die Hand stecken konnte", gilt es auch für den jungen Fritz Schmidt, Temperaturen bis minus 30 Grad zu überstehen. In Stalingrad gehört er einer motorisierten Einheit an, fährt auf dem Zugkraftwagen, einem Kettenfahrzeug, über die verschneite Steppe.Verletzte werden zum Flugplatz gebracht

Seine Kenntnisse über Autos und Motoren hatte er sich schon vor dem Krieg in einer Kfz-Werkstatt in Horbruch angeeignet. Dort zog er sich eine Knieverletzung zu, der er später verdanken sollte, dass er aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen werden konnte.Als er in den ersten Januartagen 1943 von seinem Kettenfahrzeug abspringt, wird das Kniegelenk erneut verletzt; unter großen Schmerzen gelangt Fritz Schmidt in ein verlassenes Dorf bei Stalingrad. In einem Holzhaus legt er sich nieder, die Kameraden bringen Schnee zum Kühlen. Der Batteriechef ordnet schließlich an, dass die Leute, "die nicht mehr können", zum Flugplatz gebracht werden sollen. Elf Kilometer sind es bis zum Hauptverbandsplatz, wohin Fritz Schmidt zunächst transportiert wird. "Nachdem das russische Angebot zur Kapitulation ausgeschlagen worden war, erfolgte ein Großangriff auf den Kessel", sagt der Rentner. Auch der Hauptverbandsplatz wird bombardiert. "Da brannte alles." 200 Menschen sterben, Angehörige der Sanitätskompanie und Verwundete. Nur elf Männer überleben den Angriff, einer von ihnen ist Fritz Schmidt. Sein Schutzengel hat ganze Arbeit geleistet. Er liegt in einem Holzhaus am Fenster, vor dem eine Bombe niedergeht. Ein Blindgänger, aber der Luftdruck ist so groß, dass das Haus über ihn hinweg fliegt Fritz Schmidt liegt nun im Freien, doch er behält die Nerven. "Ich dachte, am besten gar nichts machen, die kommen wieder. Und so war es auch." Ein zweites Mal kommen die Rotarmisten, beschießen mit den Bordwaffen ihrer Kampfflugzeuge den Verbandsplatz, nehmen alles, was sich bewegt, ins Visier.Überall um ihn herum nur Tote

Am 10. Januar gelangt Fritz Schmidt schließlich mit einem Lastwagen zum Flugplatz, der nur im Schutze der Dunkelheit von den Junkers-Transportflugzeugen angeflogen werden kann. In zwei Zelten, deren Dächer ganz zerfetzt sind, entdeckt der junge Soldat unzählige Tragen mit Verwundeten. Mit Entsetzen stellt er bei näherem Betrachten fest, dass die Männer schon alle verstorben sind. "Jetzt musst du sehen, wo du unter kommst", sagt er sich und sucht sich mitten im Zelt einen Platz. Den toten Kameraden legt er auf eine andere Trage, deckt sich zu und kann doch noch nicht aufatmen. Die russischen Luftangriffe gehen weiter. Fritz Schmidt baut die um ihn stehenden Tragen mit den Toten als Splitterschutz neben sich auf.Am Flugplatz selbst stehen noch schwere deutsche Flakgeschütze, die die angreifenden Flugzeuge und später sogar einen russischen Panzer abwehren können. Noch hat Fritz Schmidt keine Erlaubnis, mit einer der Jus aus Russland auszufliegen, dabei ist der 1,84 Meter große junge Mann schon völlig ausgezehrt und entkräftet, kann nur noch kriechen und nicht mehr laufen. "Doch selbst Soldaten mit Erfrierungen an den Füßen hatten Schwierigkeiten, sie galten als Fahnenflüchtige, wenn sie ausfliegen wollten", berichtet er. 16 Männer fasst eine Ju, Versuche, sie mit mehr Soldaten zu beladen, scheitern. Die Maschine kann dann nicht mehr abheben. Chaos hat sich breitgemacht, die Piloten handeln inzwischen selbstständig, zählen ab, wer ins Flugzeug darf und wer nicht. Fritz Schmidt macht sich auf den Weg. "Denken konnte ich noch", sagt er. Einem toten Kameraden zieht er die Handschuhe aus, "sie waren an seinen Händen festgefroren." Doch ohne die Handschuhe des Toten wären Fritz Schmidt die Hände erfroren, denn bei eisigen Temperaturen nähert er sich jetzt auf allen Vieren dem Flugzeug. Schlimme Szenen spielen sich ab, ein jeder möchte raus, der Andrang vor der Ju wird immer größer, und immer wieder schießen die Russen von oben. Leichenteile fliegen um den jungen Soldaten, er kriecht über sie hinweg, näher und näher an das Flugzeug heran. An der Einstiegsluke entdeckt er einen Griff, zieht sich daran hoch. "Jetzt könnt ihr mit mir machen, was ihr wollt", denkt er, während der Pilot drinnen die Zahl der Passagiere abzählt. "Noch zwei Mann", lautet der erlösende Ruf, "und dann packte mich jemand am Hintern und ich war im Flugzeug."Am 14. Januar 1943 kann Fritz Schmidt der Hölle von Stalingrad entkommen, aber noch ist der Krieg nicht zu Ende. Der Pilot muss über dem Flugplatzgelände versuchen, die Maschine auf 4000 Meter Höhe zu bringen, um sie aus dem Beschuss der russischen Flak zu bringen. Doch die schweren Geschütze verfolgen das Flugzeug noch eine Weile weiter. Später erfährt Schmidt, dass nur zwei Tage nach seinem Abflug der Flugplatz von den Russen eingenommen wurde.Vier Wochen Heimaturlaub, dann wieder nach Russland

Etwa zwei Stunden dauert der Flug in den Kaukasus, von wo aus Schmidt, der inzwischen an einer Gelbsucht erkrankt ist, mit einem Lazarettzug in die Ukraine gebracht wird. "Ich konnte nichts mehr essen, der Magen brauchte einfach nichts mehr", erinnert er sich. Nach 14 Tagen im Lazarett erholt er sich langsam, kann auch wieder kleine Mahlzeiten zu sich nehmen, aufrecht gehen, er kippt nicht mehr um. Vier Wochen Heimaturlaub sind angesagt, die Eltern sind glücklich, doch es geht zurück nach Russland. In Orel und Smolensk muss der junge Soldat weiter für sein schon längst verlorenes Vaterland kämpfen. Er gerät in russische Gefangenschaft, muss in Karelien in einer Papierfabrik arbeiten. Erst 1949 ist für ihn der Krieg zu Ende, er wird entlassen und 1951 heiratet er.Der Kachelofen verbreitet eine behagliche Wärme in der gemütlichen Wohnküche im Irmenacher Haus, das der ehemalige Landwirt mit seiner Frau bewohnt. Viele Fotos von damals hat er noch, und er arbeitet an einem Buch, in dem er seine Erlebnisse festhalten will. Fast jeden Tag ist er damit beschäftigt, rund 500 Seiten hat er schon mit der Hand geschrieben.Das Dokument eines Zeitzeugen, der zu den rund 40 000 Mann gehört, die aus dem Kessel ausgeflogen werden konnten. 100 000 Soldaten der Wehrmacht lassen ihr Leben in der Schlacht um Stalingrad, 90 000 geraten in Gefangenschaft, nur 5000 von ihnen kehren nach Hause zurück. Der Blutzoll auf der russischen Seite ist noch höher.Fritz Schmidt genießt jetzt seinen Lebensabend mit Ehefrau Elli, die grausamen Bilder von damals holen ihn allerdings von Zeit zu Zeit ein. Dann träumt er auch von den schrecklichen Erlebnissen. Aber er ist überzeugt, dass er einen Schutzengel hatte. Es bleibt zu wünschen, dass der noch viele lange Jahre gut auf Fritz Schmidt und seine Ehefrau aufpasst.

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