Die Minute und die Ewigkeit

GROSSLITTGEN. Er ist einer der bedeutendsten, wenn auch nicht einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller der Gegenwart: Friedrich Christian Delius. Im Rahmen des vom TV präsentierten Eifel-Literatur-Festivals las der Autor vor mehr als 150 Zuhörern im Kloster Himmerod.

Sie lehnen sich entspannt zurück, manche schließen die Augen. Die Zuhörer lauschen den Worten von Friedrich Christian Delius aufmerksam. Mit sonorer Stimme nimmt er sie mit auf eine Reise, eine Reise in seine eigene Vergangenheit. Vor dem inneren Auge flimmert Rom. Die Sonne scheint. Es ist ein milder Tag im Januar des Jahres 1943. Gemeinsam mit der namenlosen Protagonistin der Erzählung "Bildnis der Mutter als junge Frau" wandern die Zuhörer durch die Ewige Stadt, die Hauptstadt der Katholiken. Sie sehen die Stadt am Tiber durch die Augen einer jungen, naiven Protestantin. Ihr Weg führt sie von der Via Alessandro Farnese über den Ponte Margherita zur Piazza del Popolo, vorbei an der Spanischen Treppe quer über die Via Veneto bis zu Via Sicilia, wo die deutschen Lutheraner ihre Kirche haben. Das Ziel des Spaziergangs.Protestantischer Glaube im Kloster Himmerod

Das Laufen hat die hochschwangere Deutsche, die ihrem Mann, einem protestantischen Pfarrer, nach Rom gefolgt ist, vom Arzt verordnet bekommen. Doch zu ihrem großen Unbehagen muss die 21-Jährige, die zum ersten Mal ganz auf sich angewiesen ist, allein durch die italienische Stadt spazieren. Denn ihr Mann ist kurz nach ihrer Ankunft nach Nordafrika an die Front abberufen worden. Mit einem Schlag ist sie völlig allein in der Fremde. Halt findet sie in der Liebe zu ihrem Mann und ihrem unerschütterlichen Glauben, dem Glauben an Gott und dem Glauben an die protestantischen Grundwerte. "Ein Glück, dass wir Martin Luther hatten", sagt die Protagonistin während ihres Rom-Spaziergangs zu sich selbst. Ein Lächeln huscht über das Gesicht einiger Zuhörer. Schließlich sitzt man hier in der Alten Mühle des katholischen Klosters Himmerod, unter den Besucher ist auch Hausherr Abt Bruno Fromme. Der protestantische Reformator begegnet der jungen Frau ständig in der Hauptstadt der Katholiken.Erst nach Rom, dann nach London

Wie funktioniert die Lesung aus einem Buch, das in einem einzigen Satz geschrieben ist? Ganz einfach. Man fängt vorne an. Die Sogkraft, die von der Erzählung während des Lesens ausgeht, ist beim Vorlesen noch intensiver. Doch für 128 Seiten am Stück reicht die Puste des Schriftstellers nicht. Auch wenn die Zuhörer noch gern weiter Delius' wohl klingender Stimme gelauscht hätten, bricht er den einen Satz nach einem Drittel der Erzählung ab und nimmt einen großen Schluck aus seinem Wasserglas. Nun darf das Publikum Fragen stellen. "Was ist Fiktion, was ist Realität?", möchte eine Leserin wissen. Die Frage liegt nahe. Schließlich ist schon im Vorfeld viel darüber spekuliert worden, ob Delius die Geschichte seiner eigenen Mutter erzählt und er selbst das ungeborene Kind ist, das durch die Straßen von Rom getragen wird. "In guter Literatur ist nicht zu trennen, was Fiktion und was Realität ist", antwortet der Schriftsteller. Die Übergänge seien fließend. Als Grundlage dienten teilweise Briefe seiner Mutter an die Eltern in Deutschland, teilweise habe er akribisch die historischen Ereignisse dieser Zeit recherchiert. "Wie es sich eben für einen anständigen Autor gehört", fügt er an. Dann greift Delius wieder zu einem Buch, seinem zweitjüngsten, und gibt eine Lese-Zugabe aus "Die Minute mit Paul McCartney". Der Inhalt in Kürze: Ein Ball, ein Hund, ein Beatle, zwei junge Männer und sieben junge Mädchen treffen im Londoner Regent's Park aufeinander. Und das just an dem Tag, als "Getting better" für das Album "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" aufgenommen wurde. Ausgangspunkt ist eine banale Meldung aus dem London des 9. März 1967, derzufolge zwei deutsche Studenten vom Hund von Paul McCartney gebissen wurden. Diese wundersame Begegnung erzählt Delius immer wieder neu - auf 66 verschiedene Arten, aus 66 verschiedenen Perspektiven. Vom Haiku bis zum Rap-Song. Poetisch, amüsant, unterhaltsam. Bildnis der Mutter als junge Frau, Erzählung, 128 Seiten, Rowohlt Berlin. Die Minute mit Paul McCartney, Memo-Arien, 96 Seiten, Transit-Verlag Berlin.

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