"Die Wahlmüdigkeit ist logisch"

MANDERSCHEID. Seit mehr als 40 Jahren lebt der Ostexperte Professor Wolfgang Leonhard in Manderscheid. Der TV sprach mit ihm, über seine Art zu arbeiten und darüber, was die Bürger tun, wenn sie die Politik nicht mehr verstehen.

Wie ist es möglich, in Manderscheid über die Sowjetunion zu forschen? Leonhard: Russisches Fernsehen und russische Zeitungen geben einem die Materialien, wobei Fernsehen und Zeitung relativ objektiv in der Außenpolitik sind, aber immer stärker einseitig in der Innenpolitik. Das Zweite ist die Erfahrung. Ich habe zehn Jahre sehr bewusst in der Sowjetunion gelebt. Ich wusste fast jeden Tag, was los war und kannte die Stimmung. Danach war fast meine gesamte akademische und publizistische Tätigkeit ausschließlich auf die Sowjetunion, andere kommunistisch regierte Länder und die kommunistische Weltbewegung konzentriert. Das schafft die Möglichkeit, Dinge, die man liest, zu analysieren. Das heißt, Sie lesen viel zwischen den Zeilen? Leonhard: Ich habe zum Beispiel für die entscheidenden Perioden der Sowjetunion von '53 bis '87 die "Prawda" gebunden, so dass ich jeden beliebigen Tag der sowjetischen Geschichte mit einem Handgriff hier in Manderscheid rausnehme. Das heißt, ich habe damit nicht, was geschehen ist, sondern das, was in der "Prawda" steht. Die "Prawda" ist sehr wichtig. Gewöhnliche Zeitungen hier im Westen müssen berichten, was los ist, das ist die unterste Stufe des Journalismus. Die "Prawda"-Journalisten müssen berichten, was die Führung will, was los sein soll. Das ist wahnsinnig schwer (lacht). Dann kann man das vergleichen. Das ist unglaublich interessant, ich habe in Yale Methoden des Sowjetstudiums gelehrt. Arbeiten Sie momentan wieder an einem Buch? Leonhard: Meine Universitätstätigkeit habe ich 2001 beendet. Jetzt halte ich Vorträge, und dabei geht es auch um die jüngsten Entwicklungen unter Putin. Aber in den letzten drei Jahren, seitdem Putin immer autoritärer wird, mache ich das immer weniger. Stattdessen bin ich jetzt Nutznießer einer unglaublich interessanten Entwicklung in Deutschland. Welche Entwicklung meinen Sie? Leonhard: Ich meine nicht SPD oder CDU, sondern viel wichtigere Dinge, nämlich eine Verschiebung zugunsten der Zeitgeschichte. Die Leute begreifen immer weniger, was jetzt los ist. Ich auch nicht. Ich bin ehemaliger Yale-Professor, ich verstehe weder die Gesundheitsreform noch Hartz IV. Und wenn ich's nicht verstehe, habe ich den schweren Verdacht, dass es andere auch nicht verstehen. Was sagen die Manderscheider? Leonhard: (lacht) Die sagen das auch. Wenn man etwas nicht versteht, dann geht man nicht zur Wahl, die Wahlmüdigkeit ist völlig logisch. Wenn Politiker das so kompliziert machen, dass kein Mensch mehr begreift, was los ist, dann ist es aus. Und Gott sei Dank werden die Leute deshalb nicht apolitisch, sondern wollen stattdessen Zeitgeschichte. Woran sind die Leute interessiert? Das Hervorstechendste war das Hitler-Attentat am 20. Juli 1944. In 50 Jahren kamen kaum Anfragen zu diesem Thema, in diesem Jahr sehr viele. Voriges Jahr war es noch toller. Ich habe mich immer geärgert, dass sich fast niemand für den Volksaufstand in der DDR im Juni '53 interessiert. Voriges Jahr hatte ich mehr Vortragseinladungen zu diesem Thema als in 49 Jahren davor. Und so geht das in einem fort. 60 oder 70 Prozent meiner Vorträge sind gar nicht mehr über Russland, sondern zeitgeschichtliche Vorträge. Wer interessiert sich für solche Themen? Leonhard: Brennendes Interesse herrscht vor allem bei Menschen unter 25. Die junge Generation ist weitgehend frei von vorgefassten Meinungen, das ist ein Traum, die wollen objektiv etwas wissen. Das schlimmste Tabu, das es in Deutschland gab, war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Berlin am 2. Mai 1945. Das war unmöglich, darüber zu reden. Warum?Leonhard: Für die einen war es eine wunderschöne Befreiung, für die anderen waren das die asiatischen Horden. Dazwischen gab es nichts. Ich war dabei und war der Einzige, der am Tag unter den Deutschen in Berlin lebte, einschließlich der Frauen, die vergewaltigt wurden, und am Abend in sowjetischen Kommandanturen übernachtete. Es war atemberaubend. Ich hatte einen totalen Überblick, aber darüber konnte man nicht reden. Wenn ich sagte, dass nicht alle vergewaltigt haben, dann kam: Immer noch so ein Stalin-Kommunist? Und wenn ich sagte, dass es Vergewaltigungen gab bei manchen, kam die Frage: Wollen Sie etwa Hitler verteidigen? (lacht) Es ging nichts. Jetzt geht es. Den Anfang machten die Bundestagsabgeordneten der Grünen, die wollten mich mal haben. Ich hatte selber noch Angst gehabt, aber die waren ganz ruhig und sachlich.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort