Ein anderer sein

Wer bin ich wirklich? Eine Frage, die sich viele Menschen noch immer stellen. Könnte ich nicht ein ganz anderer sein? In seinem Erstlingsroman "Stiller" lässt Max Frisch seinen gleichnamigen Helden alle Höhen und Tiefen erleiden, nur weil er nicht die Rolle im Leben spielt, die ihm aufgegeben wurde.

Er will nicht er selbst sein. Nicht der Bildhauer Anatol Ludwig Stiller, der die Spur seines Lebens noch nicht gefunden hat. "Ich bin nicht Stiller" - so beginnt der Roman. Ein Mann weigert sich er selbst zu sein.
Was im Roman literarisch verarbeitet ist, wird heute vom Zeitgeist weit übertroffen. Heutzutage lebt bei uns eine ganze Industrie davon, dass es Menschen gibt, die einfach nicht sie selbst sein wollen. Sich selbst davonlaufen zu wollen, klappt so wenig im Roman "Stiller" wie auch im wirklichen Leben. Egal wohin man läuft, man nimmt sich immer selbst mit.
Stiller versucht verzweifelt, seine neue Identität dadurch zu rechtfertigen, dass er sich immer neue Geschichten ausdenkt. Und scheitert. Er bleibt doch der er ist. Und verzweifelt fast, als seine Ehefrau Julika, die ihn nach vielen Jahren erstmals wiedersieht, ihn mit der Aussage konfrontiert: "Du hast dich aber überhaupt nicht verändert." Dabei hat er mit dem Menschen, der Stiller einmal war, nichts mehr zu tun. Denn: Der Mensch ist nie, was er mal war, außer er macht sich zu einem Abziehbild.
Die Suche nach dem eigenen Leben, die zu einer Sucht werden kann, hat der Philosoph Sören Kierkegaard als eigentliche Krankheit unseres Lebens bezeichnet. Eine Krankheit, die unweigerlich in Verzweiflung endet. Warum aber ist es so schwer, sich selbst anzunehmen? Wahrscheinlich hängt es mit dem Bild zusammen, das wir von uns selbst gezimmert haben. Wir versuchen unser Leben so auszurichten, dass das sich immer mehr dem angefertigten und verinnerlichten Bildnis angleicht. Die Folgen: Wir verlieren uns selbst und treiben ruder- und ankerlos durch die Lebenszeit.
Wir brauchen vor Gott und auch vor den Menschen niemand anderes zu sein. Wir dürfen sein wie wir sind. Wir haben einen Funken Göttlichkeit in uns. Unzerstörbar und gewollt von unserem Schöpfer. Dieses Geschenk dürfen wir annehmen. Damit wir kein Zerrbild von uns selbst werden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort