Ein Ruhepol in schnelllebiger Zeit

Graach · Nach fast neun Jahren sind die Sanierungsarbeiten am ehemaligen Frühmesserhaus in Graach nahezu abgeschlossen. Ingrid Karbach und Erwin Kandels haben dem denkmalgeschützten Haus in viel Eigenarbeit und mit kreativen Ideen zu neuem Glanz verholfen. Nun geht das historisch wertvolle Gebäude ins Rennen um den Denkmalpreis der Sparkassen.

Graach. Es ist eine Geschichte von der Liebe auf den ersten Blick: Zwei Jahre schon suchten Erwin Kandels und seine Lebensgefährtin Ingrid Karbach aus Bornheim (Rhein-Sieg-Kreis) ein Bruchsteinhaus an der Mittelmosel. Doch nach drei enttäuschenden Besichtigungsterminen an einem Tag im November 2002 hatten sie die Hoffnung aufgegeben. Bis zur Abreise am nächsten Morgen kamen sie in einem Gasthof in Graach unter. Beim Abendspaziergang entdeckten sie gegenüber das Haus, nach dem sie suchten. Es war das ehemalige Frühmesserhaus aus dem Jahr 1888: ein dreigeschossiges Gebäude aus unverputztem Schieferstein mit zweigeschossigem Anbau, die großen, weißen Sprossenfenster von Sandstein eingefasst. Alles in einem jämmerlichen Zustand. "Es war ein Diamant, der Moos angesetzt hatte", beschreibt Ingrid Karbach, was sie darin erblickten.
Als sich herausstellte, dass ihr Traumhaus ihrem Graacher Wirt gehörte, ließen die beiden nicht mehr locker. Ein paar Monate später war der Kauf unter Dach und Fach. Ab 2003 verbrachten Kandels und Karbach jedes Wochenende und jeden Urlaub mit der Restaurierung. Sechs Jahre sollte es dauern, bis sie einzogen.
Bei der Sanierung stellte sich Ernüchterung ein: "Die Schäden waren viel schlimmer, als wir es uns vorgestellt hatten." Ins Tagebuch trugen sie ein: "Wenn das so weitergeht, sind wir auf halber Strecke pleite."
Weder er noch sie brachten handwerkliche Erfahrung mit. Trotzdem schafften sie es, das marode Haus mit viel Eigenleistung stilgerecht zu restaurieren und energetisch modern aufzurüsten.
Auch bei der Ausstattung verzichteten sie nicht auf modernen Luxus. Das Haus ist mit Server und Computernetzwerk ausgestattet, eine aufwendige Elektrik sorgt auf Schritt und Tritt für stimmungsvolles Licht, und Lautsprecher transportieren Opernklänge gleichzeitig in alle Zimmer.
Das Moos ist ab, der Diamant funkelt wieder. So sehr, dass die Teilnahme an einem Schönheitswettbewerb ansteht. Es geht um den rheinland-pfälzischen Sparkassen-Denkmalpreis. Erwin Kandels will eine Lanze für die Bestandsrettung in den alten Ortskernen brechen. Wer alte Gebäude erwerben will, dem bietet er seine Unterstützung an. Er gibt Tipps bei der Finanzierung, der Nutzung steuerlicher Vorteile, der energetischen Sanierung und hinsichtlich öffentlicher Hilfsprogramme. Die Frau an seiner Seite hilft mit Ideen zur Nutzung und Gestaltung.
Kandels und Karbach haben viele Erfahrungen gesammelt. Nach neun Jahren braucht nur noch das Treppenhaus den Feinschliff, dann ist alles geschafft. Der Anbau, einst Kelterhaus, Stall und Heuschober, ist inzwischen ein beliebtes Feriendomizil im Landhausstil mit Kundschaft aus ganz Deutschland und den Nachbarländern. "Wir wohnen, wo andere Urlaub machen", schwärmt Karbach.
Was die Kölnerin und ihren Lebensgefährten an die Mosel zog? Die Ruhe und das Leben in einer intakten Gemeinschaft. "Nach Jahrzehnten Stress in der Großstadt entschleunigt man. Wir haben das Gefühl, wieder richtig zu leben", fasst Ingrid Karbach zusammen, was sie an ihrer zweiten Heimat so schätzen. "Es ist etwas Beständiges. Ein Ruhepol in der schnelllebigen Zeit."
Kontakt: Erwin Kandels, Ingrid Karbach, Hauptstraße 65, 54470 Graach, Telefon 06531/9719125, E-Mail: refugium@frueh messerhaus.de, www.fruehmesserhaus.de
Extra

In der Hauptstraße 65 in Graach lebte einst der Frühmesser. Seine Aufgabe war es, an Sonn- und Feiertagen in der Frühe den Gottesdienst zu halten, für Gemeindemitglieder, die "gerade während des Hochamts wichtige Hausarbeit verrichten müssen", wie es in der Urkunde zur Stiftung Frühmesserei in Graach von 1694 heißt. Zu der Stiftung gehörten auch mehrere Weinberge, Wiesen und Gärten sowie das sogenannte Frühmesserhaus. Die Sanierung: In ihrer Freizeit schlugen Erwin Kandels und Ingrid Karbach den Putz ab, erneuerten die Wasserleitungen und die Elektroinstallationen, bauten die Fußböden neu auf, entfernten den Lack von den alten Holztüren. Sie tapezierten, mauerten, ließen eine Zentralheizung einbauen, Drainagen verlegen und pflasterten. Letztlich gaben sie dem Haus sein ursprüngliches Äußeres zurück. Allerdings nicht ohne eine energetische Aufrüstung. Das Dach wurde neu abgedichtet, der Schornstein aus Ziegeln originalgetreu erneuert. Mit Innendämmung und neuen Fenstern verwandelten die Besitzer es in ein Niedrigenergiehaus. sys

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