Engagierter Arzt mit großer Kompetenz

In Wittlich geboren, in Berlin als praktizierender Arzt tätig, in Palästina gestorben: Das sind die wichtigsten Stationen im Leben des jüdischen Arztes Dr. Otto Stulz.

"Diesen jüdischen Verbrechern ist jetzt endgültig das Handwerk gelegt." So lautete der zynische Kommentar von "Reichsärzteführer" Wagner zum endgültigen Entzug der Approbation für jüdische Ärzte Ende Juli 1938. Konservativ-nationale ärztliche Standesvertreter hatten bereits in der Weimarer Republik mit scharfen Polemiken gegen die angebliche "Verjudung eines ganzen Berufsstandes" Stimmung gemacht. Den braunen Machthabern kam das alles sehr gelegen, um durch zahlreiche Erlasse und "Gesetze" die Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Ärzte zu vollenden.

Herkunft aus dem liberalen Judentum:
Dr. Otto Stulz, am 24. Januar 1874 in Wittlich geboren, war einer von mehr als 8000 Ärzten in Deutschland, die aufgrund ihrer Herkunft 1933 als "jüdische Ärzte" galten. Stulz stammte aus einer liberalen jüdischen Familie. Die Vorfahren waren aus Böhmen nach Wittlich gekommen. Ottos Vater Wilhelm betrieb mit seiner Frau Bertha am Marktplatz ein Textilgeschäft. Er war ein liberaler Geist, der wesentlich dazu beigetragen hatte, dass sich in Wittlich das Reformjudentum durchsetzen konnte. Seine sechs Kinder besuchten nicht die jüdische, sondern die christliche Volksschule.
Das Medizinstudium hatte Otto Stulz in Würzburg 1897 mit einer Promotion im Fach Chirurgie abgeschlossen. In Berlin betrieb er eine Privatpraxis als Nervenarzt mit Kassenzulassung. Seit Dezember 1900 war er mit der zwei Jahre älteren, geschiedenen Philippine Rosa Goldstein verheiratet.

Publikation zur "Krankheit des Jahrhunderts":
Stulz publizierte 1909 ein kleines Buch mit dem Titel "Nervös. Moderne Gesichtspunkte für die Behandlung der sogenannten Nervosität". Seine Abhandlung war für die Zeit der Jahrhundertwende hoch aktuell - nicht nur Thomas Mann hatte wiederholt von der "kaum zu ertragenden Nervenanspannung" gesprochen - auch andere Vertreter der wilhelminischen Epoche thematisierten und litten unter "Neurasthenie", einem damals häufig gebrauchten, medizinisch jedoch eher unklar definierten Begriff für Nervenkrankheiten. Der Mediziner aus Wittlich sah in der Nervosität eine psychisch-geistige, nicht aber eine rein organische Erkrankung: "Der ganze Mensch in seiner Eigenart ist Gegenstand der Behandlung, und kein einziges Symptom kann für sich allein gewertet werden." Zum damals vielfach diskutierten Problem einer möglichen Vererbbarkeit gerade bei Juden schrieb er: "Ein typisches Beispiel für vererbte Nervosität ist die nervöse Ängstlichkeit der jüdischen Rasse. Man kann sie mit Leichtigkeit verstehen, wenn man die Jahrhunderte lange Unterdrückung und Verfolgung bedenkt, der die jüdische Rasse ausgesetzt war: Befürchtungen um die eigene Existenz, die eigene Gesundheit und die der Familie sind die ihr eigentümlichen Vorstellungsgruppen, deren Wirken in Krankheitsfällen man als Arzt so häufig zu konstatieren Gelegenheit hat."
Er selbst sah in der "Psychotherapie" - Dr. Stulz übersetzt den damals noch jungen Begriff mit "Bewußtseinsbehandlung" - die einzige wirksame Therapieform. Dabei kam er natürlich an dem Erfinder der Psychotherapie nicht vorbei, zu dem er ganz im Sinne einer modernen "Freud-Kritik" anmerkte: "Neuerdings aber bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß es für den Arzt kaum möglich ist, einen Nervösen zu behandeln, ohne daß er sich über dessen Geschlechtsleben genau orientiert hat. Denn, wenn man auch nicht so weit gehen will, wie ein Wiener Forscher (Prof. Freud) und seine Schüler, die jegliche Nervosität fast allein auf geschlechtliche Ursachen zurückführen, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß diese letzteren für die Krankheit eine äußerst wichtige Rolle spielen."

Sozialdemokrat und engagierter Sozialmediziner:
Wann genau Dr. Stulz in die SPD eingetreten ist, lässt sich nicht mehr ermitteln. Drei Monate nach Kriegsbeginn setzte er sich dafür ein, Leistungskürzungen der Krankenkassen für Tuberkulosekranke, Schwangere und Heimarbeiter abzumildern. Ganz im Sinne des "Vereins sozialdemokratischer Ärzte", der 1913 in Berlin von 20 überwiegend jüdischen Ärzten gegründet worden war und dem er angehörte, schrieb Stulz den Kassen ins Stammbuch, ihre Aufgabe "muß doch einzig und allein die sein, den Gesundheitszustand der Versicherten nach Möglichkeit zu erhalten und zu fördern; die Kassen sind doch kein Selbstzweck, sondern lediglich Mittel, um jenes Ziel der allgemeinen Wohlfahrt zu erreichen."
Mit exakten Zahlen zum Vermögen der 145 Berliner Krankenkassen machte Stulz deutlich, dass aufgrund der "Reservefonds" der Kassen auch in Kriegszeiten Mehrleistungen möglich waren. Ab Mai 1920 vertrat er seine Partei in der Bezirksversammlung Mitte. Dabei dürften ihm die Ziele der damals noch bei Politikern und auch der Mehrheit der Ärzte wenig akzeptierten Sozialmedizin ein besonderes Anliegen gewesen sein: Wohnungsfragen in den Berliner Mietskasernen, hygienische Prophylaxe, Senkung der Säuglingssterblichkeit, Bekämpfung des Alkoholismus und Fragen der Geburtenregelung im Zusammenhang mit der Forderung nach Streichung des Paragraphen 218. "Sozialhygieniker", damals eher ein Schimpfwort für fortschrittliche Ärzte wie Stulz, stammten überwiegend aus dem bürgerlich-aufgeklärten, weitgehend assimilierten, urbanen deutschen Judentum. In der "Reichssektion Gesundheit", einer Art Gewerkschaft für Heilberufe, trat er für eine Sozialisierung des Gesundheitswesens ein und engagierte sich im Kampf gegen den aufkommenden Nationalsozialismus zusammen mit sozialistischen Ärzten, die als Juden und Linke schon im Frühjahr 1933 als "staatsfeindliche Ärzte" ihre Kassenzulassung verlieren sollten. So auch Stulz. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er und seine Ehefrau bereits 1910 aus der jüdischen Gemeinde Berlins ausgetreten waren. Stulz blieb bis 1935 mit einer Privatpraxis am Kurfürstendamm in Berlin.
Am 16. Dezember 1935 erhielt er eine der letzten Arztlizenzen von der britischen Mandatsregierung und praktizierte als Privatarzt sowie als Konsulararzt am Hadassah-Spital in Tel Aviv. Damit war er einer von etwa 1000 jüdischen Ärzten aus Deutschland, die bis dahin nach Palästina eingewandert waren und in den Jahren bis zur Gründung des Staates Israel 1948 Aufbauarbeit für die medizinische Versorgung des Landes leisteten, in die selbstverständlich auch die palästinensische Bevölkerung einbezogen war.
Viel Zeit blieb dem Arzt aus Wittlich nicht mehr, seine hohe fachmedizinische Kompetenz in den Dienst von Erez Israel zu stellen. Schon am 27. Juli 1941 starb Stulz in Tel Aviv im Alter von 67 Jahren.

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