"Entführung" in die Wüste Negev

GROSSLITTGEN. (red) "Ich möchte euch zu einer Reise in den Orient einladen und aus meiner Kindheit erzählen", begann der palästinensische Schriftsteller und Geschichtenerzähler Salim Alafenisch seine Lesung in der Grundschule Großlittgen.

Und die Schüler der Klassen zwei bis vier tauchten ein in eine ihnen völlig unbekannte Welt. Geschickt regte der Erzähler durch Fragen die Vorstellungskraft seiner jungen Zuhörer an und entführte sie mit seinen Geschichten in das Zeltlager, indem er mit zehn Geschwistern als Sohn des Stammesführers in der Wüste Negev rund 60 Kilometer von Bethlehem entfernt aufwuchs. Es gab kein Radio, keine Fernsehapparate und natürlich auch keine Computer, aber hin und wieder kam Besuch: Eine Karawane erschien, ein Scheich vom Nachbarstamm mit seinen Kamelen und seiner Familie. Da es keine Hotels und Gaststätten gab, war die Lösung einfach: Man rückte zusammen, die Kinder überließen ihre Decken den Gästen und lauschten den Berichten und Erzählungen, bis ihnen die Augen zufielen. Inzwischen ist der Stamm sesshaft geworden und zählt seit der Staatsgründung Israels zu den rund 1,3 Millionen Palästinensern mit israelischer Staatsbürgerschaft. Damals jedoch war das Nomadenleben von Traditionen geprägt, zu denen auch das Märchenerzählen am Lagerfeuer gehörte. Alafenisch selbst lernte erst mit 14 Jahren lesen, besuchte die Schule in Nazareth und studierte später in Heidelberg. Den Kindern der Grundschule erzählte er aus dem Kinderbuch "Azizas Lieblingshuhn" von dem Nomadenmädchen Aziza und ihrem Huhn, das eines Tages keine Eier mehr legt und geschlachtet werden soll. Die schlaue Aziza aber sammelt bei den Nachbarn 28 Eier, um sie dem faulen Huhn unterzulegen, und entfacht damit die Eifersucht der Schlange. Die schnappt sich die Eier, um sie selbst auszubrüten. "Was aber schlüpft aus den Eiern?" fragte Alafenisch, und seine jungen Zuhörer eiferten mit Ideen um die Wette. In der arabischen Erzähltradition lasse man das Ende offen, um die Fantasie anzuregen, verriet Alafenisch den Lehrern und bat die Kinder, Bilder mit ihren Ideen zu malen und diese ihm gesammelt zuzusenden. In einer weiteren Geschichte erzählte er von dem Beduinenmädchen Amira. Gleich vierzig junge Männer wollen die Schönste aus dem Stamm der Löwen zur Frau. Wen soll die schöne Amira zum Mann nehmen? Den, der die meisten Kamele und Goldmünzen besitzt? Nein, Amira will denjenigen wählen, der am mutigsten ist und die besten Geschichten erzählen kann. Das hat ihr die Großmutter geraten. Nach vielen Wochen hat Amira drei Bewerber ausgewählt, und sie lässt sich vom Einfallsreichtum der drei Heiratskandidaten verzaubern. Am Ende des Vormittags erhielten alle Kinder ein Autogramm des Schriftstellers oder ihren eigenen Vornamen in arabischer Schrift als Lesezeichen.

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