Erinnerung an Ungeheuerliches

WITTLICH. Deutlich mehr Teilnehmer als sonst am 9. November auf dem Marktplatz: Die Mahnwache zum Gedenken an die Reichspogromnacht wurde von auffallend vielen jungen Menschen besucht.

Der Eklat um die Veranstaltung "Liebesbriefe an Adolf Hitler" war nicht der Hauptgrund für das so deutlich größere Interesse Jugendlicher an der alljährlichen stillen Stunde auf dem Marktplatz. Der TV sprach mit mindestens zehn jungen Menschen: Sie alle hatten ganz unabhängig von den umstrittenen Liebesbriefen die Veranstaltung in der Dämmerung als das begriffen, was sie sein soll: Eine einfache, respektvolle Erinnerung an das, was in den 30er- und 40er-Jahren im nationalsozialistischen Deutschland in Berlin gesetzlich angeordnet und flächendeckend von den einen umgesetzt, von den anderen zugelassen wurde. Auch Wittlicher beteiligten sich an der Pogromnacht 1938, auch hier wurde die Synagoge und damit das religiöse Zentrum des jüdischen Lebens zerstört. "Gedenken heißt auch, das Ungeheuerliche in uns eindringen zu lassen", zitierte Franz-Josef Schmit, Lehrer am Cusanus-Gymnasium, den Philosophen Theodor Adorno. Das ließen rund 150 Menschen rund um den mit weißem Papier auf den Marktplatz gelegten Judenstern zu. Vorbereitet hat die Mahnwache, die stets von Textbeiträgen begleitet wird, der "Arbeitskreis Jüdische Gemeinde Wittlich". Dessen Mitglieder stellten anschaulich Berliner Gesetzestexte der Nazizeit und ihre konkreten Auswirkungen auf jüdische Bürger aus Wittlich gegenüber. Zwei Texte waren nicht geplant

Ein Beispiel: Als Juden nicht mehr in arischen Vereinen mitmachen durften, hatte das in Wittlich den Rücktritt des langjährigen WTV-Mäzens Eichenholz zur Folge. Den Posten übernahm nahtlos ein Parteigenosse. Als das Vermögen der "abzuschiebenden Juden" eingezogen wurde, traf das auch den in Wittlich geborenen, 1941 bereits in Trier lebenden Jakob Ermann. Ergänzt wurden die vorbereiteten Texte von zwei nicht in der Konzeption vorgesehenen Beiträgen. Einer stammte von einem Bürger aus Veldenz, der den Bezug zur Gegenwart herstellte und den heute wieder erschreckend hohen Anteil Rechtsradikaler in der deutschen Gesellschaft beklagte. Der andere kam von Yaghoub Khoschlessan, der einen Ausschnitt aus der Autobiografie des polnischen Juden Marcel Reich-Ranickis verlas. Khoschlessan, langjähriger Mitgestalter der Mahnwache und damit eingeweiht in die Modalitäten der Veranstaltung, hatte sich diesmal erst unmittelbar vor deren Beginn an den Arbeitskreis gewandt. Weil das Konzept aber stand, hatte ihn Marianne Bühler darum gebeten, nicht zu lesen. Kulturamtsleiter Justinus M. Calleen empfand dies als "Skandal", Bürgermeister Ralf Bußmer sprach vom "Meinungsmonopol von Alt-Achtundsechzigern". Fakt ist: Weder Khoschlessan noch der Mann aus Veldenz wurden daran gehindert, ihre Beiträge vorzulesen. Friedvoll setzten sich die Teilnehmer abschließend in Bewegung, um neben dem von der Stadt an der Synagoge niedergelegten Kranz auch die mahnenden Kerzen vom Marktplatz zu postieren. Zu diesem Thema auch Bericht und Kommentar

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