Ferdinand von Schirach: Was ist das Böse?

Bitburg · Zum Auftakt seiner aktuellen Lesereise durch Deutschland hat Ferdinand von Schirach beim Eifel-Literatur-Festival in der ausverkauften Stadthalle Bitburg Station gemacht. Mit Geschichten über wahre Fälle und mit essayistischen Betrachtungen über Rechtsphilosophie gab er den 730 Zuhörern Stoff zum Nachdenken und unterhielt sie mit viel Humor.

 Regt eindrücklich zum Nachdenken über das eigene Rechtsempfinden an: Ferdinand von Schirach bei seiner Lesung in Bitburg. TV-Foto: Anke Emmerling

Regt eindrücklich zum Nachdenken über das eigene Rechtsempfinden an: Ferdinand von Schirach bei seiner Lesung in Bitburg. TV-Foto: Anke Emmerling

Bitburg. Vorreden sollen entfallen, Bücher ausschließlich in der Pause signiert werden und persönliche Widmungswünsche unterbleiben, so verkünden Plakate das Regelwerk für Ferdinand von Schirachs Lesung. Ein Autor mit Allüren? Nein, glücklicherweise nicht: Er überrascht mit jovialem, lockerem Auftreten und Humor, der etwas an den des Kabarettisten Rüdiger Hoffmann ("Hallo erstmal...") erinnert.
Bedächtig und verschmitzt grüßt er Bitburgs Stadtoberhaupt Joachim Kandels: "Guten Abend, Herr Bürgermeister, man sagte mir, Sie hätten eine schöne Frau". Dann bringt er die Zuhörer mit der Anekdote um ein Münchner Hotelzimmer zum Lachen. Es sei derart durchgestaltet gewesen, das sich simple Funktionen, wie das Anschalten der Dusche, nur mit 116 Seiten starkem Handbuch "Explore your Room" bewältigen ließen. "Bei Raumeinrichtung geht es um die Tugend der Mitte zwischen Strohsack und Interior Design", schließt von Schirach, "nicht anders ist es im Rechtswesen".
Damit ist er bei seinem Thema und der schockierenden Geschichte seines ersten großen Falles. Bei einem Volksfest missbrauchen die alkoholisierten Mitglieder einer Blaskapelle, allesamt ehrbare Bürger und Familienväter, ein 17-jähriges Mädchen. Sie werden angeklagt. Da durch Schlamperei und medizinische Behandlung sämtliche Spuren vernichtet sind, ist ihnen aber das Verbrechen nicht nachzuweisen. Sie kommen frei. Verteidiger von Schirach freut sich nicht, er fühlt, "dass wir unsere Unschuld verloren hatten, dass Dinge nie wieder einfach sein würden".
Damit spricht er die Kluft zwischen moralischem Empfinden und Rechtsprechung an, die zum Kern des Abends wird. Wir wollten das Böse verurteilt sehen, aber es gebe keine allgemeingültige Definition des Bösen, allenfalls eine durch religiöse oder politische Umstände geprägte Meinung. Die tauge nicht als Maßstab zur Rechtsprechung.
Als Beispiel führt er das Todesurteil gegen den protestantischen Toulouser Kaufmann Jean Calas 1762 an, das der Philosoph Voltaire später als einen aus fanatischem religiösem Eifer begründeten Justizmord entlarvte. Dies sei der Beginn der Aufklärung gewesen, sagt er. Ihr und der Philosophie sei unser Strafrechtssystem zu verdanken.
Autor prüft Moralempfinden


Später hält der Autor das Publikum zu einer Selbstüberprüfung in Sachen Moral an. Dazu stellt er Fragen, die sich darum drehen, ob ein Leben geopfert werden darf, um mehrere andere zu retten. Die Antworten der Zuhörer reichen von "Ja" oder "Nein" bis zu "diese Entscheidung kann ich mir nicht anmaßen". Von Schirach bilanziert: "Sie sehen, wir sind uns bei moralischen Fragen nur scheinbar sicher. Wie sollen wir richtig entscheiden?" Und dann erinnert er daran, dass der wertvollste Maßstab unseres Rechts in Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes festgehalten ist: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". ae

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