"Frau Mirijam" und ihre große Mission

Großlittgen · Literatur ist ihr Leben, Integration ihre Mission: Mirijam Günter bietet seit vielen Jahren Schreibwerkstätten im Kloster Himmerod an. Nun hat die Schriftstellerin Flüchtlinge eingeladen. Sie lernen bei ihr die Sprache, sprechen über ihre Schicksale und erzählen von ihren Träumen. Doch auch in Himmerod spürt die Autorin, wie gespalten die Gesellschaft zu Flüchtlingen steht.

 Büffeln mit Notizzetteln, Wasser und Saft: In einem Unterrichtsraum des Klosters in Himmerod beteiligen sich Flüchtlinge aus vielen Ländern an einer Literaturwerkstatt. TV-Fotos: Klaus Kimmling (6), Florian Schlecht (1)

Büffeln mit Notizzetteln, Wasser und Saft: In einem Unterrichtsraum des Klosters in Himmerod beteiligen sich Flüchtlinge aus vielen Ländern an einer Literaturwerkstatt. TV-Fotos: Klaus Kimmling (6), Florian Schlecht (1)

Foto: klaus kimmling (m_wil )

Großlittgen. Die Welt von Mirijam Günter dreht sich nicht nur um Bücher und Krokodilstifte. Jetzt braucht sie dringend Kaffee. Die Schriftstellerin wandert durch die Gänge des Klosters Himmerod, um einen Automaten zu finden. Die 42-Jährige öffnet eine Tür nach der anderen, bis sie endlich in der Küche landet. Schnell schnappt sie sich Tassen und drückt bei der Maschine auf die Cappuccino-Taste. Zehnmal. "Wenn das jemand mitkriegt, gibt's bestimmt Theater", murmelt Günter leise vor sich hin, stellt die Heißgetränke auf ein Tablett und schleicht sich damit unbemerkt durch den Hinterausgang ins Freie.
Ärger zu bekommen, das ist Mirijam Günter in diesem Moment herzlich egal. Wichtiger sind ihr die zehn Männer, die ihr auf dem Hof entgegenlaufen, sie anlächeln, zu den Tassen greifen und den Cappuccino trinken.
Leben und lesen


Es sind Flüchtlinge, die aus Syrien, Eritrea und Guinea nach Deutschland geflohen sind. Viel zu lachen hatten sie in den vergangenen Monaten nicht. Sie flüchteten vor Krieg und Verfolgung. Jetzt leben sie weit entfernt von ihrer Familie. Mit einer gefährlichen Reise in den Knochen und einer ungewissen Zukunft im Kopf. Helfen will ihnen Mirijam Günter - und das fängt schon beim Cappuccino an.
Die Autorin hat die Männer aus aller Welt zu einer Literaturwerkstatt eingeladen. Ins Kloster Himmerod, wo die Kölnerin gerne einkehrt, "weil es so schön ist". Dort schlafen die Männer nachts in Gästezimmern und schreiben tagsüber in einem Unterrichtsraum Geschichten auf. Von ihrem Leben, ihrem Schicksal, ihren Träumen.
Die Werkstätten sind für Mirijam Günter ein Teil ihres Lebens geworden. Meistens geht sie zu Menschen, die Hilfe brauchen. Im Jahr 2006 startete sie in Gefängnissen. Dann las sie mit behinderten und psychisch kranken Jugendlichen klassische Literatur. Wo sie auch mal gerne Heine und Schiller auf den Tisch legt, nutzt sie bei den Flüchtlingen Grundschulbücher. Mit ihnen muss sie noch an der Sprache feilen. "Von den Jungs sind einige erst wenige Wochen in Deutschland. Wenn sie einkaufen gehen, kennen sie nicht Worte wie Brot oder Kaugummi. Haben sie körperliche Schmerzen, können sie sich nur über Zeichensprache verständigen", sagt Günter.
Mit den Flüchtlingen aus Guinea spricht Günter einige Brocken Deutsch. Die Albaner verstehen nur Englisch. Ein Syrer kann lediglich Kurdisch. Bastian Zillig, der bei dem Kurs hilft, weiß, dass das Lernen nicht immer leicht ist. "Ein kurdisches Wörterbuch kostet momentan 100 Euro, weil es so oft nachgefragt wird und es so wenig Exemplare gibt", erklärt er. Das ist viel. Der Kurs trägt sich nur über Spenden.
Doch Reden hilft. Das merkt Günter, die sich schon nach einigen Stunden über Fortschritte freut. Alle Teilnehmer kritzeln einige Sätze auf Deutsch. Einer verrät, dass er ein Fußballer wie Cristiano Ronaldo werden möchte, ein anderer eifert dem Rapper Eminem nach, ein 26-Jähriger aus Guinea verrät, dass er vor einem tyrannischen Regime geflohen sei, in dem ihm die Haft drohte. Er habe sich dafür eingesetzt, dass alle Kinder in die Schule dürfen. Der Regierung passte das nicht. Er floh und ließ seine Eltern zurück. Kontakt zu ihnen hat der Afrikaner lange nicht mehr gehabt. Weder über das Handy noch über das Internet. "Zu gefährlich", sagt er. "Die Regierung könnte sie dann alle töten."
Vom Wetter und Küssen


Das sind die Momente, in denen die meisten betreten schweigen, weil sie ähnliche Schicksale erlebt haben. Es wird aber auch gelacht bei manchen Geschichten. Besonders bei denen, die Günter in Himmerod erlebt.
Die meisten drehen sich um die ungewohnten Gepflogenheiten, die Flüchtlinge in Deutschland erfahren. "Ich wurde erst mit Frau Mirijam angesprochen", erzählt die Autorin. "Als ich sagte, dass man in Deutschland die Menschen mit den Nachnamen anspricht und fragte, ob sie das verstanden hätten, lächelten sie mich fröhlich an und sagten: Ja, Frau Mirijam."
Erstaunliches offenbart sich auch, wenn Günter die Flüchtlinge aufschreiben lässt, was ihnen zuerst in Deutschland aufgefallen sei. "Schlechtes Wetter" steht auf einem Blatt, "dass Menschen Schweine essen" auf einem anderen. Ein Eritreer wundert sich darüber, dass sich Paare in der Öffentlichkeit küssen. "Das ist bei uns im Land nicht erlaubt", sagt er und grinst. "Leider." In den Pausen lassen die Flüchtlinge im Kloster ihre Seele baumeln. Sie angeln Forellen im Teich, spielen Basketball. Manche helfen, Wände im Flur zu streichen und die Hecken zu stutzen. "Mir gefällt es hier besser als in der Schule, ich lerne viel mehr", sagt Daniel. Er kommt aus Eritrea, hat eine Lockenmähne und lächelt. Pater Stephan vom Kloster Himmerod sagt, dass er die Werkstatt gerne unterstütze: "Was den jungen Kerlen passiert ist, das ist ein Wahnsinn. Hier können sie die Sprache lernen und sich eine neue Zukunft aufbauen."
Doch auch im beschaulichen Himmerod spürt Mirijam Günter, dass das Verhältnis der Gesellschaft zu Flüchtlingen gespalten sei. Einige Feriengäste helfen in den Kursen mit, andere reagierten ablehnend. "Nicht jeder schreit Hurra, wenn er im Kloster dunkelhäutige, schwarzhaarige Männer sieht. Das merke ich an den Blicken und daran, dass sich über Sachen beschwert wird, die bei deutschen Jugendlichen nicht auffallen würden", beklagt sie. Dann geht sie auf eine Geschichte ein, die sie in der Kirche erlebt habe. Bei den Männern aus Eritrea sei es Tradition, dass sie ihre Schuhe und Socken ausziehen, bevor sie in die Gotteshäuser gehen. Als sie barfuß in den Hallen standen, hätten sich einige Leute beschwert. Doch Günter spürte in dem Moment auch Solidarität. "Andere Touristen haben einfach auch ihre Sachen ausgezogen und sind mit blanken Füßen in die Kirche gegangen. Das fand ich super." Die Ablehnung kann sie nicht nachvollziehen.
Nach der Cappuccino-Pause bittet sie einen Flüchtling, dass er einen seiner Sätze vortragen soll. Der Eri treer liest: "Ich bin ein Kind Gottes." Mirijam Günter nickt. Und sagt: "Das ist einer der schönsten Sätze in dieser Woche."Extra

 Träume von Ronaldo, wundern über den Schweinefleisch-Konsum und ein ABC in Sätzen: Die Flüchtlinge haben beim Schreiben so einiges zu Papier gebracht.

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"Frau Mirijam" und ihre große Mission
Foto: klaus kimmling (m_wil )
"Frau Mirijam" und ihre große Mission
Foto: klaus kimmling (m_wil )
 Die Teilnehmer schreiben über Erinnerungen, verfassen Tagebücher und verraten, was sie vorhaben. Die Stifte, mit denen die Flüchtlinge im Kloster Himmerod arbeiten, haben die Form von Tieren. Gekauft hat sie Mirijam Günter. Die Schriftstellerin leitet den Kurs und hilft den Männern, wo sie kann. Dabei wandert sie auch durch das Kloster, um Cappuccino zu besorgen. Oder greift manchmal zum letzten Zehn-Euro-Schein in der Brieftasche, um ein Eis auszugeben.

Die Teilnehmer schreiben über Erinnerungen, verfassen Tagebücher und verraten, was sie vorhaben. Die Stifte, mit denen die Flüchtlinge im Kloster Himmerod arbeiten, haben die Form von Tieren. Gekauft hat sie Mirijam Günter. Die Schriftstellerin leitet den Kurs und hilft den Männern, wo sie kann. Dabei wandert sie auch durch das Kloster, um Cappuccino zu besorgen. Oder greift manchmal zum letzten Zehn-Euro-Schein in der Brieftasche, um ein Eis auszugeben.

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"Frau Mirijam" und ihre große Mission
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Einen ungewöhnlichen Weg hat Mirijam Günter (TV-Foto: Klaus Kimmling) hingelegt. Sie war mehrfach im Jugendheim, brach Ausbildungen ab und widmete sich später dem Schreiben. Für ihren Debütroman "Heim" erhielt sie 2003 den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet Günter regelmäßig von der Arbeit in den Literaturwerkstätten. Im August erschien im Größenwahnverlag ihr Roman "Die Stadt hinter dem Dönerladen". Dort geht es um einen Jungen, der sich illegal in Deutschland aufhält. flor Spenden gehen an den KIM e.V., Sparkasse Paderborn, BIC: DGPBDE3MXXX, IBAN: DE45476501300035001684, Verwendungszweck: Literaturwerkstatt

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