GESELLSCHAFT

REIL. Autismus - das Wort haben die meisten schon einmal gehört. Was sich aber genau hinter dieser Behinderung versteckt, wissen nur die wenigsten. Wir haben Familie Siweris in Reil besucht. Sohn Florian (12) ist ein autistisches Kind.

Wir sitzen draußen gemütlich am Kaffeetisch, Petra Siweris hat ihren Jüngsten von dreien, den kleinen Gerrit auf dem Schoß, Joachim Siweris schaut unterdessen nach dem ältesten Sohn Florian. Florian sieht genauso aus, wie man sich einen Jungen in dem Alter vorstellt. Ein groß gewachsenes Kind auf dem Weg zum Erwachsen-Werden. Florian beteiligt sich nicht an unserem Gespräch. Er dreht unermüdlich Runden mit seinem Fahrrad, fährt mit unglaublicher Geschicklichkeit haarscharf an den Stühlen und dem Tisch vorbei, 10-mal, 20-mal, 100-mal. Später sitzt er bei uns. Er schaut weg, wirkt verlegen, sagt nichts. Manchmal lächelt er. Es scheint, als sei er mit seinen Gedanken ganz anderswo, weit weg. Er lebt in einer anderen Welt, in seiner, in Florians Welt. Der dunkelhaarige Junge leidet unter Autismus. Leidet? So genau weiß das niemand. Er wirkt glücklich, obwohl er kaum in der Lage ist, mit anderen Menschen normale Beziehungen aufzubauen. Das ist das Typische des frühkindlichen Autismus. Die Kinder sind unfähig, zu anderen Personen, selbst zu den Eltern, ein normales Verhältnis herzustellen. Sie ziehen sich zurück, kapseln sich ab. Autistische Kinder können nicht wie andere Kinder spielen, sie benutzen oft ihr Spielzeug in der immer gleichen Weise. Sie bestehen zwanghaft auf ganz bestimmte Ordnungen, sie können ihre Eltern zur Verzweiflung bringen, weil sie ununterbrochen die Tür auf und zu machen oder weil sie ständig bestimmte Worte wiederholen. Dabei haben viele Autisten erstaunliche Teilleistungen. Florian zum Beispiel ist auf dem Fahrrad oder auf Inline-Skatern außergewöhnlich geschickt. Florian war zwei Jahre alt, als seine Eltern merkten, dass er anders ist. Seine bis dahin normale Sprachentwicklung blieb stehen, entwickelte sich sogar zurück. Seine Eltern machten sich Sorgen und konsultierten zahlreiche Ärzte. Es begann eine Odyssee von Klinik zu Klinik, und es dauerte vier Jahre bis die richtige Diagnose feststand. Ein Arzt hatte zuvor auf einen Hörfehler getippt, ein Kinderneurologe meinte, es handele sich um eine "Geisteskrankheit". Aber: Kann jemand, der "geisteskrank ist", im Kleinkinderalter perfekt Kinderlieder nachsingen, in Windeseile Rad fahren und Schwimmen lernen? Florians Eltern hatten ihre Zweifel und konsultierten weitere Ärzte. Ein Arzt meinte, Florian könne kein Autist sein, weil er gelegentlich lächle. Doch im Alter von sechseinhalb Jahren stand fest: Bei Florian handelt sich um eine Form des frühkindlichen Autismus, eine schwere Entwicklungsstörung, die sich spätestens bis zum dritten Lebensjahr zeigt.Selbsthilfegruppe ist eine Stütze

Leben mit einem autistischen Kind - das muss für die Eltern doch ungeheuer schwierig und nervenaufreibend sein? "Ja, es ist nicht immer einfach", sagen Petra und Joachim: "Doch wir sind in diese Aufgabe hereingewachsen, wir kennen es nicht anders." Zu Hause wissen die Eltern mit Florians Verhaltensweisen umzugehen, schwierig wird es, wenn sie mit ihm unterwegs sind. Wenn er zum Beispiel im Zuga permanent drei Wörter wiederholt oder am Strand einem Fremden ein Handtuch wegholt und es nicht mehr hergibt. "Man sieht ihm das ja nicht an", sagt Vater Joachim, "deshalb ist man ständig in Erklärungsnot." Gut für die jungen Eltern ist, dass die Großeltern im Haus wohnen. Florian kann man nicht allein lassen, er würde weglaufen und sich außerhalb seiner Welt, nicht zurecht finden. Seitdem feststand, dass Florian Autist ist, haben sich die Eltern einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Man tauscht Erfahrungen aus und organisiert Unternehmungen. Im Autismus-Therapie-Zentrum Trier wird Florian gefördert. Gute Erfolge hat nach Meinung von Petra Siweris die Tomatis-Methode gebracht. Es ist eine Musiktherapie, die ausschließlich auf Musik von Mozart basiert und teilweise von Kirchenchorälen untermalt wird. "Gemischt" wird diese Musik mit Frequenzen der Mutterstimme wie sie bei einem Fötus durch das Fruchtwasser durch kommen. Erfolg versprechend ist eine bestimmte Diät. Petra Siweris weiß, dass es Eltern gibt, die die Diagnose "Autismus" nicht wahr haben wollen. Es gebe eine hohe Dunkelziffer von nicht behandelten Fällen. Sie kann nur raten, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Adressen: Hilfe für das autistische Kind, Im Leiengarten 16, 54320 Waldrach, Telefon 06500/988179, E-Mail: Joachim.Schad@t-online.de oder Autismus-Therapie-Zentrum, Medardstraße 4, 54294 Trier, Telefon 0651/9985120. Allgemeine Info im Internet: www.autismus.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort