Gleichmut statt Weihnachtsfreude

Ich gehöre der "Luftwaffenhelfer-Generation" an und war als Schüler des Gymnasiums Traben-Trarbach vom Januar 1944 bis Januar 1945 an verschiedenen Orten - zunächst in Lothringen - später am Flughafen Rhein-Main bei der Zwei-Zentimeter-Vierlings-Flak im Einsatz.

Am 22. Dezember 1944 wurden je ein Schüler von den Gymnasien Bernkastel, Wittlich und Traben-Trarbach in die Heimatorte entsandt, um von den Eltern der Mitschüler jeweils ein Weihnachtspäckchen abzuholen. Ich hatte das Glück, für Traben-Trarbach ausgewählt zu werden. In jenen Tagen war die "Rundstedt-Offensive" in Eifel und Ardennen bereits zusammengebrochen. Man konnte das Grummeln der Invasionsfront der Alliierten vom Westen schon deutlich vernehmen, während einzelne Exemplare der deutschen "Vergeltungswaffe" V-1 gen Westen röhrten und gelegentlich als "Eifelschreck" unkontrolliert zu früh niedergingen und die eigene Bevölkerung gefährdeten. Den Himmel aber beherrschten die alliierten Tiefflieger, die als "Jabos" (Jagdbomber) plötzlich auftauchten und unter anderem gezielt einzelne Fahrzeuge oder auch Menschen unter Feuer nahmen. Mit allerlei Päckchen beladen traf ich mich mit meinen Kameraden am Bernkasteler Moselufer, von wo wir mit einem Sanitätsfahrzeug in Richtung Mainz mitgenommen wurden. Es war ein sonnenklarer Wintermorgen, der Hunsrück lag unter einer schimmernden Schneedecke. Über Longkamp gelangten wir auf die Hunsrückhöhenstraße. Ich werde nie die groteske Szene an der Kreuzung Hirschfeld vergessen. Dort stand frierend ein "Goldfasan" - wie man die Träger der gold-betressten Nazi-Uniformen abschätzig nannte - und winkte mit dem Daumen, um mitgenommen zu werden. Der Fahrer, ein leutseliger "Oberschnäpser" (Obergefreiter) drosselte den Motor, das Fahrzeug verlangsamte auf der schneeglatten Straße, der Nazi raffte hoffnungsfroh sein Bündel vom Boden, der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und rief ihm die Anfangsworte des Nazi-Kampfliedes zu: "SA marschiert!!" - gab lachend Gas, beschleunigte das Fahrzeug und ließ den Parteibonzen wütend gestikulierend in einer Schneewolke zurück. Die Schadenfreude, einem Vertreter der verhassten Partei einmal den aufgestauten Frust des kleinen Mannes gezeigt zu haben, wurde bald durch die Todesangst bei einem unerwarteten Tiefflieger-Angriff abgelöst, den wir auf dem Bahnhofsvorplatz von Kreuznach in einem Splittergraben glücklich überstanden. Den ganzen Nachmittag dröhnte der Himmel von tausenden "fliegenden Festungen", die in Richtung Osten Tod und Verderben über deutsche Städte brachten. Erst am ("heiligen"?) Abend gelangten wir über Langenlonsheim nach Mainz, wo aus den rauchenden Trümmern des Hauptbahnhofs tatsächlich noch ein Zug in Richtung Frankfurt ging. Erst spät nachts stoppte er an der Station Frankfurt-Sportfeld, von wo wir einige Kilometer zurück zum Flughafen tippelten. Von weitem konnte man schon den Brandgeruch wahrnehmen. Der Flugplatz hatte einen schweren Bombenangriff erlebt. Überall Trümmer - am Offizierskasino hing ein großer Weihnachtsbaum aus dem Fenster. Alles war gespenstisch dunkel, nur einige Feuer flackerten noch. Wir befürchteten das Schlimmste für unsere Kameraden, trafen sie dennoch lebend in der beschädigten, aber durch Erdwälle geschützten Baracke an. Sie nahmen die Weihnachtspäckchen ihrer Lieben weniger mit Freude als mit Gleichmut entgegen - froh darüber, der Hölle des Luftangriffs lebend entkommen zu sein. ZUR PERSON: Richard Ochs wohnt noch heute in Traben-Trarbach. Der 76-Jährige arbeitete als Weinkaufmann.

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