Ist gerecht immer richtig?

Unsere chinesische Schwiegertochter ist als Einzelkind groß geworden. Ihr fehlt die Erfahrung mit Geschwistern. So kamen Fragen auf: Haben die Eltern alle Kinder gleich behandelt, fühlt sich ein Kind den anderen gegenüber benachteiligt?

Solche Fragen beschäftigen die Menschheit schon immer, und jeder hat Beispiele für Geschwisterzwist. Im Rahmen der Ökumenischen Bibelwoche haben sich Christen mit der Brüdergeschichte von Jakob und Esau auseinandergesetzt. Es geht um Rivalität und Betrug unter Brüdern und um Bevorzugung durch ein Elternteil. Das Volk Israel reflektiert in dieser Familiengeschichte seine eigene Geschichte. Gerecht wäre es gewesen, wenn Gott Esau zum Stammvater Israels gemacht hätte und nicht Jakob, der mit Hilfe seiner Mutter das Erstgeburtsrecht und den väterlichen Segen erschlichen hat. Trotzdem versöhnen sich die Brüder nach langer Feindschaft, weil Esau nicht auf seinem Recht beharrt. Er akzeptiert, dass sie beide unterschiedliche Lebensentwürfe haben. Die Nachkommen Jakobs verkörpern einen möglichen Gottesbezug, aber auch Esaus Nachkommen stehen unter Gottes Segen. Daraus lässt sich folgern, dass viele Wege zu einem Ziel führen. So werden Eltern ihren Kindern nicht gerecht, wenn sie diese absolut gleich behandeln. Jedes Kind hat individuelle Fähigkeiten und bedarf daher unterschiedlicher Förderung - auch in der Schule.

In Bezug auf Religion führt das Beharren auf einer absoluten Wahrheit zu Hass und Krieg. Vielleicht könnten auch Israel und Palästina aus der Brüdergeschichte den Weg eines friedlichen Miteinanders entdecken. Versöhnung wird nur möglich, wenn eine Seite auf ihr Recht verzichtet. Biblische Geschichten haben für uns noch heute Relevanz. Ihre Lebensnähe leuchtet in der Geschichte von Jakob und Esau besonders auf.

Wolfram Viertelhaus aus Wittlich, Religionslehrer im Ruhestand.

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