Krettnach, Kahn und Kneipengang

WITTLICH. Das Wettergottvertrauen verließ die Wittlicher am Samstagmittag um 16.30 Uhr. Die Hoffnungslosigkeit auf Handzetteln verkündete: Deutschland gegen Lettland wird nicht auf der Großbildleinwand übertragen. Eine Notlösung der speziellen Art: Das Mini-Fernsehgerät am Stand vom Team "Letsgoparty".

Säubrennerflagge, Sonne, Biertischgarnitur und ein Mini-Fernseher: So erleben Fans, die hart im Nehmen sind, am Samstag das Europameisterschaftsspiel auf dem Altstadtfest in Wittlich. Der Grund: Nach heftigen Gewitterschauern am Nachmittag ließ man die angekündigte Übertragung auf der Großleinwand auf dem Marktplatz sozusagen vorsorglich ins Wasser fallen. Allerdings geregnet - das hat es dann doch nicht. Aber das Team von "Letsgoparty" hat an seinem Stand in der Neustraße vorgesorgt. Dort gibt es ein kontrastreiches EM-Fußball-Erlebnis der besonderen Art. Brechend voll die Ränge im Portugal-Bild, viel Platz auf der Zuschauerseite in Wittlich. "Deutschland", steht auf dem Shirt eines Fans in Portugal. "Wittlich" auf der Jacke eines Zuschauers auf der anderen Seite des Bildschirms. Und während der Fernsehkommentator "Volle Konzentration bei Michael Ballack" bemerkt, balanciert in voller Konzentration ein gepflegter Herr seine Fritten zur Holzbank und nimmt Platz. Eine Bedienung hält bei der Nationalhymne kurz die Hand aufs Herz, dann Anpfiff. Der Herr mit den Fritten ist Willi Steilen, 90 Jahre alt. Sein Tipp: "Null zu Null". Er soll recht behalten. Kein Wunder. Auf die Frage, wie viele Spiele er gesehen hat, lächelt er und winkt ab: "Unzählige, hunderte." Er ist vier Mal so alt wie die Jungs, deren Tipps lauten: 3:1, 3:0, 2:0, 2:1 - für Deutschland, versteht sich. Nur Katharina Becker hält dagegen: "2:1 für Lettland." Das tippt auch - allerdings für Rudis Elf - Max Stoffels, elf Jahre. Genau wie sein Papa Clemens, der auch noch Geburtstag hat und lieber im großen Stil Fußball gesehen hätte, auf Großbildleinwand eben. Wie so viele andere, die kurz vor Anpfiff in die Stadt strömten. Doch die Wittlicher nehmen die Situation mit Humor. "Kann man was sehen?", fragen Passanten. "Wir ahnen, wir ahnen!", sagt das Publikum. Kein Wunder: Der Ball ist Pünktchen-groß, gottseidank gibt es die Zeitlupe. Als Arne Friedrich gelb sieht, gibt es Wallung: "Das darf doch nicht wahr sein. Das gibt es nicht. Der hat doch total einen an der Waffel!" Das erste Weizenbier ist weggezischt. Der jüngste Zuschauer, drei Jahre, sagt: "Ich weiß, wer gewinnt. Der Tobias. Der Tobias aus dem Kindergarten, der spielt gut Fußball." Ein neuer Fan kommt, eine Portion Schaschlik balancierend. "Setzen Sie sich. Sehen können Sie hier sowieso nichts." Dann "Oh Gott! Kahn, Kahn hält!" Und wieder Ruhe. In der zweiten Halbzeit sagt ein Mann mit Schirmmütze: "So wie es aussieht, geht es eins zu null aus. Für uns , oder für die anderen." Nach fünf Minuten sagt er: "Oder es bleibt Null zu Null." Dann kommt wieder ein neuer Zuschauer. In der ersten Reihe hat der 90-Jährige aufgegeben. Der Neue trägt Rolling-Stones-T-Shirt, darüber eine Sportjacke. SV Krettnach steht auf dem Rücken. "Sie wissen nicht, wer der SV Krettnach ist? Dann haben Sie von Fußball keine Ahnung!" Bezirks-, Landes- und sogar Verbandsliga habe man gespielt. Er selbst sogar in der ersten und zweiten Mannschaft: "Das linke Mittelfeld war meine Lieblingsposition." Er schaut auf sein Bier, würdigt das EM-Spiel eines knappen Blicks: "Die erste Halbzeit habe ich 20 Minuten im Krankenhaus gesehen. Dann war es mir zu dumm, und ich bin in die Stadt gegangen. Das geht Null zu Null aus." Dann meint er: "Das ist ein Hin- und Hergeschiebe, was die spielen. Und das bei den Millionengehältern. Und dann liegt einer auf dem Boden, der Sanitäter muss kommen. Alles Zeitschinderei." Er schaut lieber Eintracht Trier, im Stadion natürlich: "Die sind gut. Sie haben diese Saison einen ehrlichen Fußball gespielt." Dann ist das Spiel aus. Der Fernsehkommentator muss die Situation in Wittlich erahnt haben: "Wir haben zu wenig gesehen." Dabei ist der Bildschirm nicht Rekordhalter: Bei den "kochenden Männern" im Hinterhoflokal gab es einen, der war nur zwei Zigarettenschachteln groß. Egal: Der SV-Krettnach-Fan sagt: "Tschö, jetzt geh' ich in die Kneipe." Ab Donnerstag, 24. Juni, werden im Haus der Jugend Wittlich alle Viertelfinal- und Halbfinalspiele sowie das Finale auf Großleinwand übertragen. Beginn ist jeweils pünktlich zum Anpfiff um 20.45, der Eintritt ist frei!

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