Kurze Röcke, lange Haare

NIEDERSCHEIDWEILER/HERFORST. (red) Der erste Traktor, das erste Radio und jede Menge Arbeitsplätze: Rosi Nieder erinnert sich an die Zeit des "Wirtschaftswunders"

"Dou bas gääkisch!" sagte meine Oma irgendwann in den 50er Jahren, als mein Vater einen Traktor kaufte. Erst ein einziger Traktor lief damals im dem 350-Seelen-Dorf, in dem fast alle Einwohner von der Landwirtschaft lebten. Mit Kuh- und Pferdegespannen fuhren die meisten Bauern auf ihre Felder, und auch aus den Reihen der Landwirte wurden über die Traktorbesitzer anfangs Kommentare laut, wie man sich nur so in Schulden stürzen könnte, und überhaupt, dieses ganze neumodische Zeugs…" "Dou bas gääkisch" musste meine Oma noch oft sagen, in diesen Jahren, in denen ich als Kind eine einzügige Volksschule besuchte. In meinem Heimatdorf Niederscheidweiler gab es gerade einmal so viele Kinder, wie in einen einzigen Schulraum hinein passten. Acht Jahrgänge wurden dort unterrichtet, von einem einzigen Lehrer. Wir, die Nachkriegsgeneration, hatten Glück, vom Krieg nichts mehr mitbekommen zu haben. Allerdings, bis das Wirtschaftswunder in den kleinen Eifeldörfern Einzug hielt, hatte man in den Städten längst Vollbeschäftigung und Gastarbeiter. Dort feierte man Partys und machte erste Urlaubsreisen in den Süden. Wir Landkinder merkten davon erst noch wenig. Anstatt eine Urlaubsreise zu machen, mussten wir im Heu helfen, Garben aufstellen und Kartoffeln ausbuddeln. Von Schwimmbädern hatten wir nie etwas gesehen, wir planschten höchstens mal im nahen Bach. Wir spielten Verstecken, die Zehnerreihe mit dem Ball und lasen Lurchi-Hefte, die es beim Schuhekauf gratis gab. (Allzu oft gab es keine neuen). Für den Sportunterricht in der Schule stand uns eine Wiese zur Verfügung mit einer Sägemehl-Sprunggrube sowie je ein Fuß- und ein Völkerball. Anstatt Klassenfahrten unternahmen wir Wandertage zu den Maaren oder ins Alfbachtal. Und doch, irgendwann bahnten sich die Neuerungen, der Zipfel des Wirtschaftswunders, auch zu uns den Weg. Zum Glück hatte ich einen fortschrittlichen Vater, der schon sehr früh ein Radio (und sogar ein Grammophon) besaß und der auch zu einem der ersten im Dorf gehörte, der sich einen Fernseher anschaffte. Dem Traktor auf unserem Hof folgten weitere landwirtschaftliche Geräte, ein Motorrad und später auch ein Goggomobil, denn mein Vater besaß nur einen IV-er Führerschein, also durfte er kein größeres Auto lenken. Wie gesagt, er war sehr fortschrittlich. Doch es war nicht so, dass mit einer kleinen Landwirtschaft großes Geld verdient wurde. Also war Geld immer Mangelware in unserem Haus. Als ich mit 16 in den 60er-Jahren mein erstes Geld verdiente, kaufte ich mir ein Kofferradio. Ich war total aus dem Häuschen, dass ich nun endlich abends im Bett noch Radio Luxemburg hören konnte. Wir jungen Leute, die erstmals die Chance hatten, mit der Mode zu gehen, trugen nach Petticoats und Perlonkleidern superenge Röcke, Schlaghosen, ließen die Säume immer höher rücken und die Haare immer länger wachsen. Wir lasen Bravo und feierten Partys. Mit 19 schaffte ich mir ein Auto an, mit selbst verdientem Geld. Für 2000 Mark. Ich war das erste Mädchen im Dorf mit einem Auto. Meine Tankrechnung für den ganzen Monat betrug höchstens 60 Mark! Ich fuhr in Urlaub nach Spanien und sogar nach Ibiza. Mein Gott, wie oft musste meine Oma nun zu mir sagen: "Dou bas gääkisch". Sie, die nie in ihrem Leben weiter als bis nach Koblenz gekommen war, die all diese Neuerungen einfach nicht fassen konnte. Arbeit zu finden war einfach. In Wittlich wurden Industrie- und Gewerbebetriebe nur so aus dem Boden gestampft. Als Sekretärin bot man mir auf eine Anzeige in der Stuttgarter Zeitung Ende der 60er-Jahre sogar 65 Stellen an. Rosi Nieder aus Herforst, damals wohnhaft in Niederscheidweiler Wenn auch Sie eine historische Anekdote kennen, den Namen eines Hauses oder einer Straße erklären können oder zu einem historischen Ereignis eine persönliche Geschichte zu erzählen haben, schreiben Sie unter dem Stichwort "Stadtgeschichten" mit Namen, Adresse und Telefonnummer an die E-Mail-Adresse mosel@volksfreund.de. Wichtig ist, dass Ihre Geschichte höchstens 60 Druckzeilen (à 30 Anschläge) umfasst.

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