Mit der Einschulung begann der Aufstieg

TRABEN-TRARBACH. Als Marlene Kaiser Anfang der 30er-Jahre eingeschult wurde, begann zugleich ihr "Aufstieg". In unserer Reihe "Dorfgeschichte(n)" erinnert sie sich an ihren höchst beschwerlichen Schulweg.

Mit ihren Eltern Marie und Heinrich Gesemann wohnte Marlene Kaiser im Ahringstal unterhalb des hoch über der Mosel gelegenen Dorfes Starkenburg, und dort war die Grundschule. Vier Jahre lang stieg das Kind bei Wind und Wetter ganz allein den steilen Pfad hinauf, und als Marlene anschließend das Trarbacher Gymnasium besuchte, war sie noch länger unterwegs. "Meine Eltern hatten es damals so bestimmt, dass ich nach Starkenburg gehe", erinnert sich die 79-Jährige. Der Schulweg nach Enkirch wäre zwar ebenerdig verlaufen, hätte aber mit 45 Minuten noch länger gedauert als der halbstündige Aufstieg nach Starkenburg. Streckenweise war der heute nicht mehr existierende Pfad nur 40 Zentimeter breit, und den täglichen Marsch hat Marlene Kaiser als "nicht immer angenehm" in Erinnerung. "Selten kam ich mit trockenen Füßen in der Schule an." Die kleine Marlene hatte keine Begleitung auf dem beschwerlichen Schulweg, und besonders unheimlich war es ihr im dunklen Winter. "Ich hatte zwar immer eine Taschenlampe dabei, habe sie aber nie benutzt", sagt sie. Sie wollte mit dem Licht keine Wildtiere erschrecken und kam auch in der Finsternis nicht vom rechten Weg ab. "Ich hatte Angst", gesteht sie heute ein, "aber das hätte ich damals nie zugegeben". Vater Heinrich Gesemann, ein bekannter Kunstmaler, hatte in dem großen Anwesen sein Atelier, und Mutter Marie richtete im Haus ein Erholungsheim mit vegetarischer Küche ein. "Die Kindheit im Ahringstal war sehr schön", schwärmt Marlene Kaiser, wenngleich sie bedauert, dass sie nie Spielkameraden hatte. "Das waren Hund und Katze." In der Starkenburger Schule war sie denn auch die einzige "Fremde" und nahm prompt das dort gesprochene Platt an, worüber die Eltern nicht gerade erfreut waren. Als Marlene aufs Gymnasium überwechselte, wurde ihr täglicher Schulweg noch länger und anstrengender. Zunächst musste sie nach Starkenburg hinauf und dann in Trarbach wieder heruntersteigen. Auf dem Frühstückstisch standen eine Kanne Milch und Haferflocken, und die Pausenbrote hatte Mutter Marie schon am Vorabend gemacht: Schwarzbrot mit Quark. Um 6.30 Uhr verließ sie das Ahringstal, und sechs Kilometer Fußmarsch lagen hinter Marlene, wenn sie pünktlich zum Unterrichtsbeginn um 8 Uhr in der Schule eintraf. Vom allmorgendlichen Frühsport, den alle anderen zu absolvieren hatten, war sie befreit. "Zu der Zeit war ich ja noch unterwegs", lacht sie. Ihr Jahrgang war der erste, der Mädchen den Besuch auf dem Gymnasium gestattete. "Der damalige Direktor Schneller mochte aber keine Mädchen. Die Jungens durften Latein lernen, wir waren vom Unterricht ausgeschlossen", kann sich Marlene Kaiser noch heute empören. Wenn sie Klavierstunden bei Fräulein Margarethe Rumpel in Traben hatte, aß sie bei Bekannten zu Mittag, und nach dem Unterricht machte sie sich müde auf den weiten Heimweg. Manchmal hatte sie jedoch Begleitung. Peter, den Schäferhundmischling, musste sie morgens immer einsperren, weil der ihr sonst gefolgt wäre. Doch manchmal gelang es dem treuen Gefährten, sich zu befreien, "und dann ging im Gymnasium die Klinke herunter und Peter spazierte zur Tür herein". Brav saß er neben Marlene, bis der Unterricht beendet war und wanderte dann mit ihr zurück ins Ahringstal. An schönen Sommertagen radelte Marlene Kaiser zum Gymnasium, aber der Schulweg war kaum kürzer, als wenn sie ihn gelaufen wäre. "Irgendwann habe ich gestreikt", sagt sie. Statt der Reifeprüfung machte sie eine Gärtnerlehre. An den beschwerlichen Schulweg jedoch erinnert sie sich ohne Schrecken, "das war halt einfach so", sagt sie, und Wind und Wetter können ihr bis heute nichts anhaben. Wenn auch Sie eine historische Anekdote kennen, den Namen eines Hauses oder einer Straße erklären können oder zu einem historischen Ereignis eine persönliche Geschichte zu erzählen haben, schreiben Sie unter dem Stichwort "Stadtgeschichten" mit Namen, Adresse und Telefonnummer an die E-Mail-Adresse mosel@volksfreund.de. Wichtig ist, dass Ihre Geschichte höchstens 60 Druckzeilen (à 30 Anschläge) umfasst.

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