Mit Lourdes-Wasser im dunklen Keller

Wir lebten als Familie, meine Eltern, eine unverheiratete Tante, mein Bruder und ich, auf einem Bauernhof in der Trierer Landstraße, damals Hindenburgstraße. Seit jenem Heiligabend 1944 verging kein Weihnachtsfest, an dem nicht des schrecklichen Bombenangriffs auf unsere Stadt gedacht wurde. Ich bin Jahrgang 1934/35 und habe diesen 24. Dezember in bester Erinnerung. Meine Mutter begab sich nach dem Mittagessen ins Wohnzimmer, um den Weihnachtsbaum zu schmücken. Zur damaligen Zeit durften wir Kinder nicht dabei sein, und somit war es für uns die größte Überraschung, zur Bescherung den festlich geschmückten Tannenbaum zu sehen. Mein Vater hatte für eine in Köln ausgebombte Familie, die Zuflucht in Wittlich bei Verwandten fand, ein Kaninchen aus unserem Hasenstall geschlachtet und war im Hof damit beschäftigt, es abzuziehen und küchenfertig vorzubereiten. Auf einmal kam er zum Haus gerannt und brüllte nur noch: "Ab in den Keller, Angriffszeichen über uns."Mit Soldaten und Leuten aus der Jugendherberge

Das waren die plötzlich aufgetretenen Sternchen am Himmel. Bei den vorangegangenen Fliegeralarmen gingen wir meist zu unseren Nachbarn, Familie Knopp, in den gewölbten Weinkeller, wo wir uns alle sicherer fühlten. Aber dafür hatten wir keine Gelegenheit und liefen in unseren Keller im Haus. Hinzu kamen noch Leute aus der benachbarten Jugendherberge, unter anderem auch deutsche Soldaten, die sich dort aufhielten. Meine Tante lief noch schnell in ihr Schlafzimmer und brachte eine Flasche Lourdes-Wasser, das 1935 an der Quelle in Lourdes geschöpft worden war. Ich erinnere mich, dass wir laut beteten und dass das Wasser zum Bekreuzigen auf unsere Hände verteilt wurde. Auch die Soldaten, für die dieses Heilwasser kein Begriff war, waren dankbar und vertrauten wie wir auf Hilfe. Rund ums Haus fielen in dreimal wiederkehrenden Abständen Bomben. Man sprach im Nachhinein von Bombenteppichen. Das Vieh im Stall brüllte fürchterlich, und nach jeder kurzen Stille versuchte meine Tante, durch eine Kellerluke zum Hof hinzusehen und sagte: "Gott sei Dank, der Stall steht noch." Dann hörten wir Hilfeschreie aus dem gegenüberliegenden Krankenhaus. Mein Vater, damals Brandmeister der Freiwilligen Feuerwehr Wittlich, hatte in den Monaten vorher schon viele Einsätze in Trier erlebt und war nicht mehr zu halten und sagte: "Ich muss raus hier, ich muss helfen." Da nützte unser Bitten zu bleiben nichts mehr. Nun wurde es geheimnisvoll still, und wir verließen zaghaft den Keller. Zur Straße zu sahen wir, dass der mittlere Krankenhaustrakt in Trümmern lag. Wie Vater uns später erzählte, waren die Ordensschwestern zur sonntäglichen Andacht versammelt. Vier Schwestern kamen ums Leben. Ein etwa zehn Jahre alter Junge lief im Schlafanzug mit beiden Armen in Gips unsere Straße hinauf und rief nur noch verzweifelt: "Ich will haam bei mein Mamm." Vermutlich hatte er in Trier Fliegerangriffe mitgemacht und war stationär im Krankenhaus. Eine hochschwangere Frau war ebenfalls im Nachthemd die Straße in Richtung Trier in ihrer Verzweiflung unterwegs. Familie Hademer nahm sie in ihrem Haus auf. Ein Blick aus unserem Speicherfenster zeigte ein Flammenmeer über der Stadt. Ich sehe heute noch das schreckliche Feuer durch Brandbomben, die das Möbelhaus Weinand in Schutt und Asche legten. Gegen Abend kam mein Vater vom Einsatz aus der Stadt und brachte Familie Lütticken aus der Burgstraße mit nach Hause und sagte: "Wir müssen das Wohnzimmer räumen, damit die Littges mit ihren ausgebombten Verwandten wenigstens vorerst ein Dach über dem Kopf haben." Und so ergab es sich, dass unser vorbereitetes Weihnachtszimmer zur Krippe für Obdachlose wurde. Der ungeschmückte Tannenbaum stand noch wochenlang mit Ständer im Hof. Auf unseren Wiesen hinter dem Haus, die bis zur Kasernenstraße reichten, waren 24 Bombentrichter. Die dort niedergegangenen Bomben waren vermutlich für den Kasernenbereich vorgesehen, wo die "105er Einheit" deutscher Soldaten stationiert waren. Unsere Feldscheune Ecke Klausenerweg-Kasernenstraße hatten wir einer ausgebombten Familie aus Köln als Unterstellplatz für den noch vorhandenen Hausrat zur Verfügung gestellt. Auch dort war eine Bombe eingeschlagen, und die Scheune war zur Hälfte dem Erdboden gleich. Ein flüchtender Mensch kam dort ums Leben. Am späten Abend kam Frau Gräfin Kageneck und nahm meine Mutter, meine Tante und mich mit nach Gut Blumenscheid. Meine Mutter, die früher Köchin im Gutshaushalt bei Familie von Kageneck war, half, die bereits rund 50 geflüchteten Personen aus der Stadt mit Essen aus der Gutsküche zu versorgen. Ich war noch ein Kind, aber bei der Betreuung der Säuglingsstation, die ebenfalls auf Blumenscheid Aufnahme fand, konnte ich mich nützlich machen. Mein Vater war Tag und Nacht mit den wenigen Männern und mehr Frauen der Feuerwehr unterwegs, um Verschüttete zu bergen. Die Priester der Stadt Wittlich, Dechant Karl Thommes und Kaplan Franz Hermann, spendeten Sterbesakramente und sprachen Trost zu. Eine weitere Begebenheit vom Sonntagmorgen, dem 24. Dezember, ist mir noch in Erinnerung und von Gesprächen über diesen Heiligabend im Gedächtnis. Gemeinsam mit meinen Eltern kam ich aus der Frühmesse von St. Markus. Zusammen mit uns ging eine Kirchenbesucherin, die uns als Milchkundin kannte, über die Lieserbrücke. Auf einmal sagte sie zu meiner Mutter: "Frau Dresen, sehen Sie doch mal die aufgehende Sonne über der Lieser. Das ist doch wahrhaftig eine Auferstehungssonne." Ja, das wurde sie sicherlich für Frau Murren und ihre beiden Kinder. Am Nachmittag kam Frau Murren mit einer großen Zahl von Personen in Molls Keller in der Lieserstraße ums Leben.Zweimal dem Tode knapp entgangen

Ihre angenommene Nichte Käthe, die in Emmerich bereits als einzig Überlebende ihrer Familie einem Bombenangriff entkommen war, entging auch in Molls Keller wieder dem Tod. Sie wurde später von einer Familie auf dem Hunsrück adoptiert. Über all diese schrecklichen Kriegserinnerungen sprechen wir heute in unseren regelmäßigen Treffen des Jahrgangs 1934/35 und bedauern auch, dass Mitschülerinnen an diesem Heiligabend unter den Toten waren. Lassen wir die Zeit die Wunden heilen und hoffen und beten, dass so etwas nie mehr über unsere schöne Stadt Wittlich kommt.

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