Gesellschaft Ob mit Handicap oder ohne: Jeder kann Musik

Neumagen-Dhron · Der Verein Amme ist bundesweit einzigartig: Gegründet vor fünf Jahren, hat er seitdem Hunderten behinderter Menschen eine fundierte musikalische Ausbildung ermöglicht.

 Martin Möhlig ist voll bei der Sache: Einmal in der Woche kommt er zum Unterricht zu Bernd Jakob.

Martin Möhlig ist voll bei der Sache: Einmal in der Woche kommt er zum Unterricht zu Bernd Jakob.

Foto: TV/Christine Catrein

Martin Möhlig ist Schlagerfan. Jeden Freitag kommt er zum Musik-Unterricht. Den Titel, den er übt, hat er sich selbst ausgesucht: „Schatzi schenk mir ein Foto“ von Micky Krause. „Hau rein!“ Dieser Aufforderung seines Lehrers Bernd Jakob kommt Martin sofort nach: Voll konzentriert schaut er auf sein Notenblatt und spielt erst die einzelnen Töne, dann zupft er zu der Originalmusik aus dem Computer. Martin Möhlig ist einer der Musikschüler, die von dem Verein Amme profitieren, den sein Vater vor fünf Jahren gegründet hat.

Ob alt, ob jung, ob beeinträchtigt oder sozial schwach: Jeder soll die Möglichkeit haben, Musik zu lernen und zu machen. Das ist die Überzeugung von Günther Möhlig aus Neumagen-Dhron. Das war auch seine Motivation, den Verein Amme zu gründen. Amme steht für „Musiker für Musiker im Einsatz“ und widmet sich Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Beeinträchtigung. Denn als Vater eines Sohnes mit Down-Syndrom hat Möhlig erfahren, wie positiv sich Musik auswirken kann. Da es kaum entsprechende Angebote für Menschen mit Behinderung gab, wollte Möhlig genau diese Lücke schließen. „Ich wollte etwas schaffen, das im musikalischen Bereich vergleichbar ist mit den Special Olympics im Sport.“

Viel hat er seitdem geschafft: In neun Förderschulen, fünf Musikschulen und vier Werkstätten der Region sind 300 behinderte Schüler in musikalischer Ausbildung. Rund 260 000 Euro wurden in den vergangenen fünf Jahren investiert. Das Geld stammt aus Spenden von Privatleuten, von diversen Stiftungen wie der Nikolaus-Koch-Stiftung und der SWR-Aktion Herzenssache. Es gibt jeweils eine Anschubfinanzierung – in der Hoffnung, dass die Projekte danach weiterlaufen und sich die Schulen und Werkstätten selbst um die weitere Finanzierung kümmern. In fast allen Fällen sei das gelungen. Der Verein ist in der ganzen Region tätig (siehe Extra). Und das ist das Besondere: Nach dem Pilotprojekt mit mehr als 300 Schülern aus der Region gibt es seit November 2017 16 weitere Kooperationen zwischen Förderschulen und Musikschulen in ganz Rheinland-Pfalz. Eine ähnlich flächendeckend arbeitende Organisation gebe es in Deutschland nicht noch einmal, sagt Möhlig. Nachdem Rheinland-Pfalz nun „angeschoben“ ist, werden im Saarland fünf und in Baden-Württemberg 20 Einrichtungen mit ins Boot genommen.

Mit dieser Entwicklung ist er sehr zufrieden. Enttäuscht ist er hingegen von Politik und Verbänden: „Ich würde mir wünschen, dass die sich mehr mit Taten als mit Worten einbringen.“

Ein weiteres Anliegen ist dem Hobbymusiker die Qualifikation der Lehrer. Es gebe immer noch Berührungsängste und der Aufwand, behinderte Menschen zu unterrichten sei größer. Es brauche mehr Geduld, Zeit und Aufwand, etwa um Noten so zu schreiben, dass sie auf den jeweiligen Schüler angepasst sind.

Einer, der das seit einigen Jahren macht, ist Bernd Jakob. Der Gitarrist unterrichtet jeden Freitagmorgen im Cusanus Hofgut auf dem Kueser Plateau behinderte Menschen. Und das mit großer Freude. „Einer kann Töne, der andere Akkorde. Man muss jeden da abholen, wo er steht.“ Und auch schon mal ideenreich sein: Da Martin Möhlig Linkshänder ist, hat Jakob kurzerhand auf dessen Gitarre die Saiten seitenverkehrt eingespannt. Damit kommt der junge Mann, der eine Werkstatt des DRK-Sozialwerks besucht, bestens zurecht. Genauso wie mit den Noten, die ihm Jakob aufgeschrieben hat.

Ein weiterer Baustein: Um Lehrer besser auf die speziellen Anforderungen vorzubereiten, bietet der Verein Amme regelmäßig Fortbildungen für Lehrer an.

Ein großes Anliegen des dreifachen Vaters ist außerdem, dass behinderte Musiker mehr in Vereine und Chöre integriert werden. Es gebe zwar einzelne Beispiele von Musikvereinen, in denen Behinderte aktiv sind, aber es sei immer noch die Ausnahme. Möhlig: „Es wäre schön, wenn alle Menschen integriert werden könnten, die mitmachen wollen – egal, welche Fähigkeiten sie haben.“

Unter Inklusion versteht der Unternehmensberater aber weitaus mehr: „Für mich ist Inklusion auch, ältere Menschen, die beispielsweise nach Jahren wieder einsteigen wollen, zu integrieren. Oder Flüchtlinge, sozial Schwache oder Benachteiligte.“

Wo sieht Möhlig seinen Verein zum zehnten Jubiläum? „Ich hoffe, dass die Politik erkennt, dass sie organisatorisch und finanziell so handelt, dass die Verbände das tun, was ich jetzt mache – in allen Bundesländern.“ Denn Schlagerfans, die selbst gern Musik machen, gibt es überall.

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