Gastbeitrag Professor Hermann Simon: „Der Landkreis muss innovativer werden“

Perspektiven und Herausforderungen für den Kreis Bernkastel-Wittlich – darum geht es in diesem Gastbeitrag von Professor Hermann Simon. Der in Hasborn geborene Wirtschaftswissenschaftler wagt einen analytischen Blick in die Zukunft seines Heimatkreises.

 Professor Simon prognostiziert: Während Wittlich wächst, werden schlecht angebundene Dörfer im Kreis weiter veröden.

Professor Simon prognostiziert: Während Wittlich wächst, werden schlecht angebundene Dörfer im Kreis weiter veröden.

Foto: Christian Moeris

Der Landkreis Bernkastel-Wittlich hat in den letzten Jahrzehnten eine äußerst positive Entwicklung erlebt. Die Situation meines Heimatdorfes Hasborn kann als symptomatisch gelten. In den 1950er Jahren lebte das ganze Dorf von der Landwirtschaft, heute gibt es dort keinen einzigen Bauern mehr. Dabei ist Hasborn keineswegs eine Ausnahme, 30 Dörfer des Kreises sind ohne landwirtschaftliche Betriebe. Meine Großeltern hätten auf die Frage, was aus den Menschen wird, wenn sie die Landwirtschaft aufgeben, vermutlich zweifach geantwortet: „Dann werden alle arbeitslos sein und die Leute werden verhungern.“

Wie wir wissen, ist beides nicht eingetreten. Die Arbeitslosigkeit im Kreis liegt bei sehr niedrigen 2,7 Prozent, was Vollbeschäftigung bedeutet. Bei einer Kreisbevölkerung von 112 000 gibt es gut 40 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, von denen nur 702, also knapp zwei Prozent, in der Landwirtschaft arbeiten. Die heutige Wirtschaft des Kreises wird von Industrie und Dienstleistungen geprägt. Dazu gehört auch die im europäischen Kontext sehr gute Verkehrsinfrastruktur mit den Autobahnen A1/A48 und A60. Das Autobahnkreuz Wittlich symbolisiert diese Stärkeposition und dürfte der wichtigste Faktor für die Attraktivität von Wittlich und Umgebung als Investitionsstandort sein.

Hermann Simon Foto: privat

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Foto: TV/privat

Es hätte kaum besser kommen können. Gleichwohl stellt sich die Frage nach den Herausforderungen der Zukunft. Wie wird es weitergehen? Was sind Chancen und Risiken? Bei dem Versuch, solche Fragen anzusprechen, will ich nicht auf die vielfältigen Alltagsprobleme, die der Landrat und seine Mannschaft zu bewältigen haben, eingehen. Zum einen bin ich kein Experte für Kommunalverwaltung, zum zweiten schaue ich etwas weiter in die Zukunft und leite daraus Anforderungen für die Politik ab.

Quantität versus Qualität der Arbeitsplätze

Wie angedeutet gibt es im Kreis keinen Mangel an Arbeitsplätzen. Zudem wird weiter investiert. Aber die Wertschöpfung der Unternehmen und damit die Verdienste der Arbeitnehmer lassen zu wünschen übrig. Dahinter steht als Ursache das Qualifikationsniveau. Deutschland hat keine nennenswerten Rohstoffe oder natürliche Ressourcen, sondern ist auf die Qualifikation seiner Unternehmer und Arbeitnehmer angewiesen, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Und in dieser Hinsicht muss man für den Kreis erheblichen Nachholbedarf diagnostizieren. In einer bundesweiten Studie zur Beschäftigung von Akademikern, also Arbeitnehmern mit Hochschulabschluss, liegt die Region Trier auf dem vorletzten Platz von 85 Regionen. Vermutlich schneidet der Kreis etwas besser ab als die Region Trier insgesamt, aber das sind allenfalls Nuancen. Es bleibt festzustellen, dass wir in der Beschäftigung höher qualifizierter Arbeitnehmer in Deutschland am unteren Ende rangieren.

Brain Drain

Diese Schwächeposition des Kreises hat mehrere Ursachen. Eine der wichtigsten ist der sogenannte Brain Drain, frei übersetzt der „Abfluss von Gehirnen“. Ich illustriere das am Beispiel meiner Abi­turklasse des Jahres 1966. Von den 22 Abiturienten sind lediglich drei im Kreis geblieben, eine Lehrerin, ein Rechtsanwalt und ein Tierarzt. Alle, die Naturwissenschaften, Technik, Informatik oder Wirtschaft studierten, arbeiten in den Ballungsgebieten. Dieser Brain Drain hält mittlerweile seit drei Generationen an. Was es für eine Region bedeutet, wenn die Mehrzahl der am besten Ausgebildeten wegzieht, kann man vermuten, aber kaum in Zahlen belegen. Jedenfalls müsste ein Bemühen des Kreises und der Gesellschaft dahin gehen, diesen Trend zu brechen und idealerweise umzukehren. Das ist sehr schwierig. Es setzt voraus, dass mehr höher qualifizierte Arbeitsplätze im Kreisgebiet entstehen. Dazu gehören Forschung und Entwicklung, High-Tech Produkte, Marketing, Finanzen und anspruchsvolle, wissensintensive Dienstleistungen.

Innovationsschwäche

Wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlstand entstehen vor allem durch Innovationen. Leider schneiden die Region Trier und damit wohl auch der Kreis Bernkastel-Wittlich in dieser Hinsicht im bundesweiten Vergleich nicht gut ab. Bei den Forschungs- und Entwicklungsausgaben wird Platz 63 von 85 Regionen belegt, das ist noch der beste erreichte Rang. Schlechter sieht es mit Platz 72 bei den Patenten pro 100 000 Beschäftigten aus. Beides sind keine Plätze, die für die Zukunft ausreichen. Viele Betriebe im Kreisgebiet stellen eher einfache Produkte her, die einem scharfen Preiswettbewerb ausgesetzt sind. Als Konsequenz fallen die Gewinnmargen vieler Unternehmen niedrig aus. Davon kann sich jedermann in Bundesanzeiger.de ein Bild machen. Die niedrige Gewinnmarge beschränkt die Fähigkeit, in Innovationen zu investieren und birgt Risiken für die nächste Krise. Viele Betriebe im Kreis sind nicht krisenfest. Die hohe Beschäftigung, die wir derzeit haben, ist in keiner Weise für die Zukunft garantiert.

Unternehmerlücke

Im Technologieatlas Eifel heißt es „prosperierende Regionen zeichnen sich vor allem durch eine ausgeprägte und starke Unternehmerkultur aus. Rohstoffe, Infrastruktur oder externe Investitionen sind zwar für den Wohlstand einer Region auch wichtig, spielen aber im Vergleich zum Unternehmertum eine nachgeordnete Rolle.“ Leider muss man für die Region eine Unternehmerschwäche feststellen. Diese Diagnose gilt insbesondere für die oben geforderten anspruchsvolleren Produkte und Dienstleistungen, weniger für Wirtschaftsbereiche mit einfacheren Qualifikationsanforderungen. In der angeführten bundesweiten Studie landet die Region Trier bei „Gründungsintensität innovative Branchen“ sage und schreibe auf dem letzten Platz, dem 85.. Und nochmals: selbst wenn der Kreis hier vielleicht etwas besser abschneiden sollte als die Region, dürfte der Befund nicht wesentlich anders ausfallen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir eine ausgeprägte Unternehmer- und Gründerschwäche haben. Ein Großteil der Beschäftigung und des Wohlstandes stammt von externen Investitionen und nicht aus eigenem Unternehmertum.

Örtliche Infrastruktur

Landflucht, Entleerung der Dörfer, verödete Innenstädte, Demografie, das sind Schlagworte, die mir im Zusammenhang mit der örtlichen Infrastruktur einfallen. Ich warne allerdings vor einer Generalisierung und rate zu differenzierter Betrachtung, gerade für den Kreis. Die Entwicklungen sind nämlich äußerst widersprüchlich. Im Gegensatz zu manchen Prognosen erwarte ich in den nächsten Jahrzehnten keinen Rückgang, sondern ein Wachstum der Bevölkerung in Deutschland und im Kreis. In einem Artikel in der Wochenzeitung „Die Zeit“ habe ich vor einigen Jahren für 2050 eine Bevölkerung in Deutschland von 93 Millionen prognostiziert. Die Entwicklung seither gibt mir Recht. Mittlerweile hat Deutschland bereits knapp 84 Millionen Einwohner, Illegale nicht mitgezählt. Ich glaube auch nicht, dass die Bevölkerung im Kreis nennenswert schrumpfen wird, eher dürfte sie zunehmen, von heute 112 000 auf 120 000 im Jahre 2050 erscheint mir eine realistische Prognose. Wittlich hat dann 30 000 Einwohner. Allerdings verändert sich die Bevölkerungsstruktur in Bezug auf die Anteile älterer Menschen und von Migranten. Eine Stoßrichtung Deutschlands und auch des Kreises muss sein, qualifizierte beziehungsweise qualifizierbare Migranten anzuziehen und diese zu integrieren. Vom Erfolg dieser Bemühungen wird der zukünftige Wohlstand entscheidend abhängen.

Innerhalb des generellen Demographietrends gibt es starke Verwerfungen, auch im Kreis. Wittlich wächst stark, gleiches gilt für Orte, die eine kritische Masse und Infrastruktur aufweisen (Salmtal ist ein Beispiel) sowie Dörfer, die nahe am Arbeitsplatzmagneten Wittlich liegen (Greimerath und Hasborn sind Beispiele). In solchen Dörfern hat sich die Einwohnerzahl in den letzten 50 Jahren teilweise verdoppelt, während sie in nur wenige Kilometer entfernten und schlechter angebundenen Dörfern massiv geschrumpft ist. Gerade in diesen Orten sind Entleerung und Verödung schwer umkehrbar. Bei einem Workshop im Eifelkreis Bitburg-Prüm wurde als Gegenmaßnahme eine „Urbanisierung der Dörfer“ vorgeschlagen (TV vom 22. November 2019). Ich halte das für reine Wunschträumerei. Das Gleiche gilt übrigens für eine Innenstadt wie die von Wittlich. Es wird nicht gelingen, die Wittlicher Innenstadt in der heutigen Ausdehnung mit Leben zu füllen. Auch für den Personennahverkehr im Kreisgebiet muss man eine ähnlich pessimistische Prognose treffen. Die diesbezüglichen Wünsche sind unter wirtschaftlichen Aspekten nicht erfüllbar. Langfristig lässt sich nicht ausschließen, dass einzelne Siedlungsplätze aufgegeben werden.

Die Diskrepanz in den Lebensverhältnissen wird also zunehmen. Eine Stadt wie Wittlich wird attraktiver. Abgelegene Dörfer fallen weiter zurück und werden für junge Menschen noch weniger anziehend. Die bestehenden steuerlichen Rahmenbedingungen bei Gewerbe- und Einkommensteuer fördern dieses unerwünschte Auseinandertriften eher als dass sie diesem entgegenwirken.

Nach dieser auf die aktuelle Situation bezogen positiven, aber im Hinblick auf zukünftige Chancen und Risiken skeptischen Diagnose, stellt sich die Frage, was Kreis und Kommunen tun können, um die Chancen zu verbessern beziehungsweise die Risiken zu mindern.

Dazu ist zunächst zu sagen, dass die Einwirkungsmöglichkeiten der Verwaltung beschränkt sind. Wesentlich entscheidender werden private, vor allem unternehmerische Initiativen sein. Ich führe sechs wichtige Maßnahmen auf.

Unternehmertum fördern

Diese Maßnahme erscheint mir als die wichtigste. Sie muss bei den Schulen ansetzen. Interessierte Schüler sollten möglichst früh mit Unternehmern in Kontakt gebracht werden. Das kann mit Projekten, Firmenbesuchen, Gesprächen mit Gründern geschehen. Ich will dabei auf einen Unterschied zu Praktika, die ich ebenfalls sehr empfehle, hinweisen. Praktika simulieren die Arbeitnehmerrolle. Mir geht es aber darum, Schülern und Studenten die Rolle des Unternehmers nahezubringen und sie auf diese Weise zu motivieren, selbst Unternehmer zu werden. Nachdrücklich rege ich auch die Einrichtung eines Gründerzentrums durch den Kreis mit Einbeziehung der Unternehmen an. Als Standort kommt nur Wittlich in Frage. Jungen Menschen, die Unternehmer werden wollen, sollte der Start bürokratisch und finanziell möglichst einfach gemacht werden.

Gremium mit Experten einrichten

Viele Kinder des Kreises haben „draußen in der Welt“ große Erfolge erzielt. Der aus Morbach stammende Edgar Reitz oder der IT-Unternehmer Thomas Simon aus Großlittgen sind Beispiele. Ich schlage vor, ein Gremium solcher Experten zu bilden, das den Landkreis darin beraten kann, wie man den Brain Drain abmildert, mehr Innovationen in den Kreis bringt und generell das Kompetenzniveau der Unternehmen erhöht. Die Abmilderung des Brain Drains gelingt vermutlich nicht auf direktem Wege, sondern nur über Verbesserung der Wirtschaftsbedingungen.

Qualifizierte Migranten anwerben

Ob der Kreis die Anwerbung qualifizierter bzw. qualifikationswilliger Migranten selbst betreiben kann, lasse ich offen. Auf jeden Fall kann das in Zusammenarbeit mit Verbänden, Kammern und Unternehmen geschehen. Einige Verbände sind auf diesem Gebiet bereits aktiv, etwa der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA). Gefährliche Engpässe drohen im Bereich der Gesundheits- und Altenpflege. Vor Jahren habe ich in Indien riesige Plakatwände gesehen, mit denen Krankenschwestern für Amerika angeworben wurden. In dieser Hinsicht müssen wir viel aktiver werden.

Verstärkt Investitionen anziehen

Ein wesentlicher Teil der heutigen Arbeitsplätze im Kreis ist durch externe, vor allem amerikanische Investitionen entstanden. Mit Investitionen aus USA ist in Zukunft weniger zu rechnen. Die größten Chancen für die nächsten Jahrzehnte sehe ich bei chinesischen Investoren. Deshalb sollte der Kreis aktiv auf entsprechende Organisationen, zum Beispiel die China International Investment Promotion Agency (CIIPA), die ein Büro in Frankfurt betreibt, zugehen und das Gebiet als attraktiven Investitionsstandort positionieren. Andere Regionen, insbesondere solche in den neuen Bundesländern, sind in dieser Hinsicht wesentlich aktiver und werben sogar in China bei dortigen Investoren.

Hochschulen stärker integrieren

Hochschulen, vor allem technikorientierte, sind effektive Treiber des Wachstums und der Gründung von Unternehmen. Man sieht dies an Beispielen wie Aachen und Karlsruhe. Wittlich hat keine eigene Hochschule und wohl auch nicht die Kapazität, Standort einer relevanten Institution dieser Art zu werden. Aussichtsreicher erscheint eine Rolle als Nebenstandort der Trierer Hochschulen. Diese Rolle sollte sich keineswegs auf die Universität (13 000 Studenten) beschränken, mit der es bereits intensive Kontakte gibt, sondern zudem die stärker technisch orientierte Hochschule Trier (8 000 Studenten) einbeziehen. Ideal wäre es, wenn in Wittlich ein technikorientiertes Institut eingerichtet werden könnte.

Kommunalstrukturen reformieren

Die kommunalen Strukturen im Kreis stammen teilweise aus dem Mittelalter. Die 55 Seelen-Ortsgemeinde Willwerscheid liegt in der Eifel, gehört aber zur Verbandsgemeinde Traben-Trarbach (Entfernung 26 Kilometer). Der einzige Grund für diese Zuordnung besteht darin, dass bis 1789 der Abt von Springiersbach Landesherr des Dorfes war. Die Verbandsgemeinde Wittlich-Land umfasst 44 Ortsgemeinden, von denen jede einen Ortsbürgermeister und einen Gemeinderat hat. Ich halte ein solches Gebilde für nicht managebar. Nahezu jedes Dorf versucht, sein eigenes Gewerbegebiet zu entwickeln, was natürlich eine Folge der unsinnigen Gewerbesteuerregelung ist. Die Dienstleistungen, die winzige Dörfer bieten können, sind minimal. Auch Schulstandorte müssen stärker konzentriert werden. Eine Grundschule mit 50 oder 70 Schülern kann heute keine adäquaten Bildungsmöglichkeiten bieten. Es führt einfach kein Weg an einer Reorganisation der kommunalen Struktur vorbei. Mir ist bewusst, dass es dagegen auf örtlicher Ebene massiven Widerstand geben wird.

Zusammenfassung

Der Landkreis Bernkastel-Wittlich steht heute wirtschaftlich gut da. Er ist aber keineswegs krisen- und zukunftsfest. Die vorgeschlagenen Maßnahmen beinhalten große Herausforderungen. Aber nur, wenn diese bewältigt werden, können wir eine ähnliche positive Entwicklung wie in den letzten Jahrzehnten erwarten.

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