"Schwätz doch, schwätz doch...!"

BERNKASTEL-WITTLICH. Im Februar und März 1945 rückten die Amerikaner in der Eifel vor. Zeitzeugen erinnern sich imTrierischen Volksfreund an das Kriegsende und die Zeit danach.

Am 8. Mai 1945 gab es Milei. Wieso ich das heute noch so genau weiß? Die Amerikaner fuhren in ihren Jeeps durchs Dorf, es war L-hausen, wenigstens nannte es mein Vater der "im Krieg geblieben" ist, so. Dabei "kratzten" sie, wie man heute sagt, mit Absicht die Kurve so scharf, dass hinten aus den offenen Jeeps die Dosen und Pakete mit Verpflegung nur so herauspurzelten. Die jungen Leute machten sich ein Vergnügen daraus: Wir Kinder saßen in den Startlöchern in den Eingängen und sobald etwas herabfiel, sprangen wir hinzu und brachten es stolz zur Mutter, die aus Milei ein Essen zauberte. Im Hof des Bauernhauses standen drei oder vier deutsche Soldaten, abgerissen, erbärmlich, die Hände über dem Kopf. Ich war entsetzt. Der deutsche Soldat war mir bislang immer nur als Lebensretter, als Sieger, als Held vorgestellt worden, zwar verschmutzt, aber Held! Dass die auch einmal besiegt, gefangen, erbärmlich abgerissen und verwundet, erniedrigt und beleidigt da stehen könnten, das war dem Neunjährigen, der Hitler'schen Propaganda hilflos ausgesetzt, unvorstellbar gewesen. Vor den Jugendlichen stand ein Amerikaner. Wie aus dem Ei gepellt. Halbstiefel, eine phantastisch sitzende Hose mit dreiviertel Breeches, ein Hemd mit Bügelfalte senkrecht auf dem Rücken, gerade erst aus dem Wäscheschrank, lässig das Maschinengewehr im Anschlag. Wir waren gerade erst aus dem Keller gekrochen, in den Kleidern hatten wir übernachtet. Im Dunkeln: ein baumlanger Schwarzer war plötzlich im Keller, amerikanischer Soldat, suchte nach Deserteuren, Soldaten, jungen Männern. Der Sohn der Bauersfrau hatte sich den rechten Zeigefinger "rechtzeitig" (?) abgehackt. Da brauchte er nicht zu den Soldaten. Den suchten sie. "Schwätz doch, schwätz doch, schwätz doch!", rief et Kätt'. Sie hatte Angst, der Amerikaner nimmt ihren Sohn mit, und meine Mutter konnte Englisch! Das war damals lebensrettend. Heute fragen mich meine Schüler "Warum sollen wir Englisch lernen?" Soll ich es ihnen erzählen? Oder ist es "out"? Vorbei? Vorgestern? Es ist Erinnerung, die man auch nicht auswischt wie Kreide auf der Tafel, wenn man will. Es steckt drin. Es ist Bestandteil. "Schwätz doch, schwätz doch!" - meine Mutter hat den Jungen gerettet. Der Amerikaner stand vor den abgerissenen deutschen Soldaten. Im nahen Wäldchen war ein Trichter. Drumherum saßen zehn, zwölf Soldaten - ohne Beine, ohne Unterleib. Sie hatten wohl Picknick gemacht, vielleicht Feuer, der Feind hatte sie gesehen und genau in die Mitte eine Bombe platziert. Ein Trichter, genau in der Mitte, drumherum die toten Oberkörper. "Schwätz doch, schwätz doch...!" Das Leben geht weiter. Ich bekam einen wunderschönen Fellrucksack. Der war übrig geblieben. Der Amerikaner stand vor den deutschen Soldaten mit der MP. Keiner schoss mehr. Der Krieg war zu Ende oben in Lykershausen, Nähe Boppard am Rhein. Die böse Zeit kam dann erst. Wie die Schallwelle eines Überschalljägers. Der Schwanz des Drachens war gefährlicher als der Kopf. Siegfried war out. Wir haben es überlebt. Ach so, Sie wollen noch wissen, was Milei ist? Milei ist getrocknetes Eipulver, vielleicht auch mit Milch. Man kann Pfannkuchen daraus machen. Helmut Dhein ist Lehrer in Ruhestand. Der 68-Jährige arbeitete in Wittlich, wo er noch heute lebt. Aufgewachsen ist er in Trier. Im Krieg wurde er nach Lykersdorf bei Boppard evakuiert.

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