Sechs Augen für zwei Ohren

GLADBACH. (peg) Judith, Christine und Melanie sind Freundinnen. Und was für welche: Neben den üblichen Dingen, die man in ihrem Alter so macht, lesen sie einer alten Dame Gedichte vor. In Kürze werden sie dafür von der Landrätin als Stille Stars ausgezeichnet.

Als Judith Wingenders Familie vor nunmehr 15 Jahren in das neue Haus am Rand von Gladbach zog, war Gertrud Kesseler noch rüstig genug, um auf das Mädchen aufzupassen. Inzwischen leidet sie an Diabetes, ist fast erblindet und hatte wiederholt Schlaganfälle. Da wundert es nicht, dass sie sich freut, wenn ihr jemand vorliest, Briefe schreibt, oder manchmal einfach nur Tee mit ihr trinkt. Judith und ihre Freundinnen Melanie Koch und Christine Klein tun das seit vier Jahren. Mal gemeinsam, mal allein besuchen sie die ehemalige Deutschlehrerin, die für ihr Leben gern Gedichte hört. Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Theodor Storm, Goethe, Schiller und Hesse gehörten zum täglich Brot der alten Dame, das sie gerne mit den Mädchen teilt. Die gute Tat blieb keine Einbahnstraße. "Durch das ständige Vorlesen kennen wir die Gedichte selbst teilweise auswendig", berichtet Melanie. Und überhaupt: So manche schönen Zeilen haben sie auf diese Weise kennen gelernt, auf die sie sonst vielleicht nie gestoßen wären. Lyrik liegt schließlich nicht sonderlich im Trend, nicht einmal im Deutschunterricht. Hin und wieder spielten sie miteinander "Schule falsch herum", wie Christine es nennt: Die Lehrerin sagte auswendig ein Gedicht auf, und ihre jungen Besucherinnen lasen mit, ob denn auch alles stimmte. Bäume hat sie ihnen beim Namen genannt und Vogelstimmen erkannt. Auch diese Erinnerungen möchten die drei nicht missen. Als Gertrud Kesseler neulich Geburtstag hatte, ließen sie sich darum etwas ganz Besonderes einfallen. "Wir haben alle ihre Lieblingsgedichte auf MP3-Player gesprochen und auf CD gebrannt", erzählt Judith. Zur Zeit besuchen die drei Gertrud Kesseler nicht mehr regelmäßig: Es gehe ihr ziemlich schlecht, sagt ihr Mann, der die lesende Truppe immer mit Tee versorgt hat. Die Mädchen hoffen, dass sich das bald wieder ändert. Und bis dahin hat sie ja wenigstens ihre Gedichte-CD.

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