So jodelt Wittlich

Wittlich · Nein, hier geht’s nicht ums Oktoberfest – in der App Jodel tauschen sich die Einwohner über Ausgehtipps und über ihre geheimen Wünsche aus. Da niemand weiß, wer schreibt und wer liest, wird das mitunter ziemlich unterhaltsam.

Es könnte die brünette Frau sein, die neben ihrem Auto auf dem Lidl-Parkplatz steht und grinsend auf ihr Handy schaut. Oder vielleicht hat es der Mann mit den knallweißen Turnschuhen geschrieben, der sich gerade beim Bäcker in die Schlange einreiht. Wer es auch immer war: Er hat gerade einen wunderbaren Menschen bei Lidl gesehen, sich nicht getraut, ihn anzusprechen, und sich ausführlich mit anderen Wittlichern über sein Erlebnis unterhalten. Anonym, in der Handy-App Jodel. Zahlreiche andere Wittlicher haben ihm auf seine Nachricht mit Flirttipps und eigenen Erzählungen geantwortet. Jeder in Wittlich kann mitreden - aber keiner weiß, mit wem er sich gerade unterhält.

Das Besondere an Jodel ist, dass sich die Nutzer mit anderen Menschen aus der unmittelbaren Umgebung öffentlich unterhalten können. Wer die App auf seinem Handy nutzt, sieht, wie weit die Anderen entfernt sind - er erfährt aber nicht, mit wem er sich gerade austauscht (siehe Info). Ein Blick in die App zeigt: Wenn Menschen ihr Gesicht nicht zeigen müssen, zeigen sie manchmal ihr wahres Gesicht. Wer auf der Suche nach schräger Unterhaltung ist und erfahren möchte, was sich die Wittlicher sonst nicht zu sagen trauen, dem sei ein Blick in Jodel empfohlen. Am häufigsten unterhalten sich die hiesigen Jodler über Restauranttipps für die Stadt (El Tilos und Burger King bekommen besonders gute Kritiken).

Die kulinarischen Diskussionen sind aber langweilig im Vergleich zu den anderen, nun ja, schrilleren Themen. Ein Wittlicher (oder ist es eine Wittlicherin?) meldet sich, weil er eine Mitbürgerin in einem Porno erkannt haben will. Es folgt eine ausführliche Diskussion über die Pornoindustrie im Allgemeinen und mögliche Drehorte im Speziellen. Manche der Kommentare möchte kein Journalist in einer Zeitung abdrucken.

Das Mineralwasser Gerolsteiner Medium? Sollte verboten werden, meint einer. Warum, das erfährt der neugierige Leser nicht. Ein anderer erkundigt sich nach den vielen Jets, die kürzlich am Himmel über Wittlich hinweggedonnert sind (ein Blick in den Volksfreund hätte gezeigt: Die US-Luftwaffe hat geübt). Das habe mit dem "Wetterkrieg" zu tun, verkündet ein weiterer Nutzer, der offensichtlich besser informiert ist. Aha.

Dass viele Bürger die AfD in den Bundestag gewählt haben, bewegt besonders viele. Einer echauffiert sich über Alexander Gaulands Ankündigung, Politiker zu jagen. "Wie in der Steinzeit vor etwa drei Millionen Jahren" mute das an. Viele pflichten ihm bei.

Ein anderer Nutzer beschwert sich über Schließung von Sparkassenfilialen und trifft den Nerv vieler aus der Region. Der Werbespruch "Nähe ist einfach" sei vor diesem Hintergrund zynisch. Kunden allerdings, die über einen Bankwechsel nachdenken, werden bei Lektüre der zahlreichen Kommentare vermutlich nicht schlauer - jeder Nutzer empfiehlt eine andere Bank. Wer ernsthaften Rat sucht, sollte die Finger von Jodel lassen. Wer aber erfahren will, was seine Nachbarn heimlich über das Wittlicher Oktoberfest, die AfD, Pornos und amerikanische Jets denken, wird bestens unterhalten. EXTRA

SO FUNKTIONIERT DIE APP

Smartphone-Nutzer können auf Jodel anonym mit anderen aus ihrer Umgebung schreiben. Auf jede Textnachricht und jedes Bild können andere - ebenfalls anonym - antworten. Über jeder Nachricht wird angezeigt, wie nah sich ihr Verfasser ungefähr aufhält. Die App gibt es bereits seit 2014, in den vergangenen Monaten wurde sie aber reger genutzt in der Region.

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