"Volkswirtschaft verlangt Zuverlässigkeit"

WITTLICH. Während die wirtschaftliche Großwetterlage noch Grauschleier aufweist, herrschte gestern zur Eröffnung der Wirtschaftswoche Wittlich ungetrübte Festtagsstimmung: 165 Aussteller, so viele wie noch nie, präsentieren auf mehr als 10 000 Quadratmetern ihre Produkte und Dienstleistungen.

Als Bürgermeister Ralf Bußmer die knapp 300 geladenen Gäste zur 4. Wittlicher Wirtschaftswoche begrüßte, äußerte er noch die Hoffnung, dass der Wengerohrer Bombenfund keinen Einfluss auf die Stimmung haben möge. Eine Stunde später stand fest: Im Stadtteil Wengerohr ging alles glatt, die Bombe war entschärft. Scharfzüngig und kritisch ging Festredner Hans Friderichs, gebürtiger Wittlicher, Wirtschaftsminister im Kabinett von Helmut Schmidt und Kuratoriums-Vorsitzender der Stiftung Stadt Wittlich, mit der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik um. "Regierung und Gewerkschaften haben das ganze Ausmaß der Probleme noch nicht erkannt", so seine Vermutung. Dem 71-Jährigen gehen die Reformbestrebungen und die geplante Umsetzung der Hartz-Pläne nicht weit genug, um die strukturellen Probleme zu lösen. Statt der "Gleichmacherei" durch Flächentarifverträge sollten betriebliche Einzelverträge abgeschlossen werden, wenn die Mehrzahl der Beschäftigten das wolle. Er habe den Verdacht, so Friderichs, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften den Arbeitsplatz-Besitzenden mehr verschaffen wollen, gleichzeitig aber den Arbeitslosen den Zutritt zum Arbeitsmarkt verwehren. "Hier hat sich ein Kartell gebildet zu Lasten der Nicht-Arbeitsplatzhaber." Indem eine größere Lohndifferenzierung je nach Arbeit, Region und Wirtschaftsektor geschaffen werde, könne sich Deutschland auch besser für die EU-Osterweiterung und den damit verbundenen Zustrom von jungen, arbeitswilligen Kräften wappnen. Dass Deutschland hinter Euro-Land her hinke, habe viel mit Fehlern zu tun, die nach der Wiedervereinigung gemacht worden seien, glaubt der Wirtschaftsexperte. Solche immensen Transferleistungen von West nach Ost seien nicht leistbar, ohne dass der reichere der beiden Partner auf etwas verzichte. "Der Effekt ist ein lang anhaltender Schlag gegen Investition und Beschäftigung." Friderichs warnte davor, dass nach der Entlastung durch die vorgezogene Steuerreform den Bürgern gleich wieder in die andere Tasche gefasst wird. "Steuerpolitik", so die Erfahrung des Ex-Bundesministers, "ist ein Großteil Psychologie". Die Volkswirtschaft verlange Zuverlässigkeit und nicht laufend neue und modifizierte Gesetze.Bußmer: Brauchen mehr Mut und Entscheider

Es sei an der Zeit für einen breiten gesellschaftlichen Aufbruch, sagte Stadtbürgermeister Bußmer. Statt auf die Herausforderungen des globalen Marktes mit den Rufen nach Staat und Politik zu reagieren, sei jeder Einzelne gefragt. Bußmer: "Wir brauchen mehr Entscheidungsfreiheit, mehr Mut und mehr Entscheider, und dafür muss die Politik mehr Freiheiten garantieren." Sich gemeinsam am Markt positionieren - das ist auch Bußmers Zukunftswunsch für die Wirtschaft der Region Wittlich. Auch der ländliche Raum habe Chancen, und dafür sei Wittlich das beste Beispiel. 787 Arbeitsplätze kämen in der Stadt auf 1000 Einwohner; das sei mehr als doppelt so viel wie der Landesdurchschnitt. Die Region Wittlich sei auf gutem Weg, sich funktional in Richtung Oberzentrum zu entwickeln. Nach der offiziellen Eröffnung der Messe begutachteten die Gäste das Angebot in den sieben Hallen und auf dem Freigelände. (Weitere Informationen zur Wirtschaftswoche auf der folgenden Seite)

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