Vom Ackerland zum Häusermeer

Wittlich · Die heutige Stadtgeschichte dokumentiert den rasanten Wandel des Wittlicher Stadtbildes. Wie es zum Fotovergleich im Abstand von 100 Jahren gekommen ist, erklärt Albert Kein. Der erste Beigeordnete der Stadt Wittlich beschreibt zudem die fast vergessenen Hintergründe des sogenannten Dreimeeresblicks.

Wittlich. Mehrere Fotos, die der Wittlicher Verleger Georg Fischer (1881 bis 1962) in der Zeit um 1900 anfertigte, überließ dessen Sohn Dr. Ernst J. Fischer, 92 Jahre, jetzt dem ersten Beigeordneten Albert Klein. Werner Pelm ist derzeit mit seiner Kamera unterwegs, um die historischen Fotos vom Standort des damaligen Fotografen aus ein zweites Mal aufzunehmen.
Albert Klein hat dem Trierischen Volksfreund eines dieser Vergleichsbildpaare zur Verfügung gestellt und erklärt dazu den sichtbaren Wandel der Stadtgeschichte:
Georg Fischer fotografierte wohl in einem Sommer um 1913 vom obersten Weinbergsweg aus in Richtung Bombogen.
Im Vordergrund sind die Gebäude der Hasenmühle (an der Lieser nahe dem Reitverein, Anmerkung der Redaktion) zu erkennen, wie man sie heute noch vorfindet. Dahinter sieht man abgeerntete Getreidefelder, wo in sogenannten Kasten aufgerichtete Korngarben auf ihren Abtransport in Scheunen warten.
Stadt Geschichte(n)


Am rechten Bildrand fällt die 1913 errichtete Holzindustrie (an der Kurfüstenstraße) auf, damals als Garant für den wirtschaftlichen Aufschwung Wittlichs gefeiert.
Die rund 500 Quadratmeter große Produktionshalle gehörte in späteren Jahren der Firma Kümmel & Co. und war an der - mittlerweile als Radweg genutzten - Bahnstrecke Wittlich-Daun willkommener Arbeitsplatz für bis zu 500 Menschen.
Links wird das Foto begrenzt von den Anlagen der Wittlicher Dampfziegelei, mit deren Bau 1897 begonnen wurde und die über Jahrzehnte Bauwillige mit Ziegelsteinen und anderem Baumaterial versorgte.
Die Bildmitte wird geprägt von dem 1904 in Gegenwart des Prinzen Eitel Friedrich von Preußen feierlich eingeweihten Kriegerwaisenhaus für katholische Zöglinge, 50 Knaben und 30 Mädchen. Das ist heute Teil des Peter-Wust-Gymnasiums.
Dunlop-Schornstein ragt auf


Auf Werner Pelms Vergleichsfoto aus diesen Tagen sind die ehemaligen Industrieanlagen mit ihren unübersehbaren Schloten verschwunden.
Stattdessen überragt der 80 Meter hohe Schornstein des Dunlop-Reifenwerks weithin sichtbar die Dächer zahlloser Häuser, die sich auf den vor hundert Jahren noch weiten Feldern ausbreiten.
Einzig die Hasenmühle, das Kriegerwaisenhaus, ein gestutzter Ziegeleikamin oder der Turm der Bombogener Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt von 1790 sind im Gewirr der Bauwerke noch zu erkennen.
Diese auf den Fotos dokumentierte eindrucksvolle Entwicklung der Stadt Wittlich war nur möglich, weil behutsam landwirtschaftlich genutzte Flächen in Bauland umgewandelt wurden. Eine Veränderung, für manch einen schmerzlich, die sich tatsächlich für das Gemeinwesen äußerst positiv ausgewirkt hat. Die Vergleichsfotos beweisen, dass eine Stadt wie Wittlich Entfaltungsmöglichkeiten braucht und ein Stillstand für die Bewohner nur nachteilig wäre.
Der Standort am obersten Weinbergsweg, von dem die Fotos aufgenommen wurden, wird in Wittlich auch scherzhaft "Dreimeeresblick" genannt: "Am Tag sieht man das Häusermeer, abends das Lichtermeer und nachts gar nichts mehr!"

Albert Klein

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