Politik Neue Chancen in der Krise finden

Wittlich · Entschleunigung und mehr Solidarität: Trotz aller Probleme bieten sich in der Corona-Krise auch Chancen in der Politik. Manche Themen und Probleme werden neu überdacht, und es gibt Lösungsansätze, die früher möglicherweise indiskutabel waren. Der TV hat sich bei den Parteien umgehört

 Vieles wird in der Corona-Krise mit dem Laptop von der Couch aus geregelt.

Vieles wird in der Corona-Krise mit dem Laptop von der Couch aus geregelt.

Foto: Christin Klose/dpa-tmn/Christin Klose

Die Corona-Krise stellt viele Abläufe auf den Kopf – persönliche Treffen sind nicht mehr möglich, viele Menschen arbeiten im Homeoffice, und der Schulunterricht muss zuhause organisiert werden. Andererseits erfahren manche Berufsbereiche, allen voran Berufe im medizinischen und pflegerischen Bereich, eine neue Wertschätzung. Zudem organisieren sich manche Wirtschaftsbetriebe um, damit sie auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen weiterhin ihre Kundschaft versorgen können. Mit dem Thema befasst sich auch die Politik. Der TV hat sich bei den im Kreistag vertretenen Fraktionen umgehört und gefragt, ob man bei allen Ärgernissen und Widrigkeiten der Corona-Krise nicht auch positive Effekte abgewinnen kann.

Jürgen Jakobs von der CDU erklärt, dass seine Partei – wie die übrigen auch – den laufenden Geschäftsbetrieb über Telefon- und Videokonferenzen organisiert. Vieles wird jetzt papierlos per E-Mail oder über Messenger-Dienste erledigt. Für die Bürger bleiben die Parteien über E-Mail, Telefon oder auch über soziale Medien erreichbar.

Jakobs macht darauf aufmerksam, dass der Aspekt ,neue Medien’ nun wohl einen Schub erhalten wird: „Der Betrieb der Schulen läuft individuell und wird sicher im Bereich der „neuen Medien“ mit großem Nachholbedarf am Ende der Krise zu diskutieren sein.“ Zudem bringe die Krise auch viele Menschen zum Nachdenken. Jakobs: „Ist nicht doch der Einkauf beim heimischen Betrieb um die Ecke, beim Metzger, beim Bäcker, ja auch beim Modegeschäft, beim Einzelhändler was ,Wertvolles’!“

Die Gesundheitsversorgung müsse durch erreichbare Krankenhäuser auch in der Zukunft gesichert sein. Das gelte auch für den Landkreis Bernkastel-Wittlich. Jakobs: „Ein seit Jahren notwendiger Investitionsbedarf wurde durch die Landesregierung nicht ausgeglichen. Die Zahlen sind eindeutig: Die tatsächlichen Ausgaben der Fördermittel nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz sind von 143,8 Millionen Euro im Jahr 2001 landesweit auf 125,8 Millionen Euro im Jahr 2019 zurückgefallen.“

Im Bildungsbereich berichtet Bettina Brück (SPD) von positiven Erfahrungen: „Es zeigt sich, dass die Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und die Eltern ganz schnell und flexibel auf die neue Situation reagiert haben. Dafür sage ich allen ein großes Dankeschön. Mein Eindruck ist, dass es insgesamt sehr gut läuft.“ Selbstgesteuertes Lernen bekomme eine ganz neue Bedeutung. Die Corona-Krise könne dem digitalen Lernen einen Schub geben, neue Lehr- und Lernmethoden könnten sich etablieren und können später auch weiter intensiviert werden. Deshalb sei es jetzt auch der richtige Schritt, dass sich die Kultusministerkonferenz und das Bundesbildungsministerium darauf verständigt haben, dass 100 Millionen Euro aus dem Digitalpakt kurzfristig für den Ausbau digitaler Infrastruktur in den Ländern genutzt werden können.

Im Wirtschaftsbereich mache eine Notsituation viele erfinderisch. Dabei verweist Brück auf die vielen in kürzester Zeit auf die Beine gestellten Onlineshops oder Lieferdienste. Brück: „Bürgerinnen und Bürger kaufen bewusst lokal und regional ein, zum Beispiel auch verstärkt in unseren Dorfläden, und rufen zur Unterstützung lokaler Geschäfte auf. Ich denke: Die aus der Not entstandenen, innovativen Konzepte können auch nach der Krise bleiben. Sie verdeutlichen, dass es eine Alternative zu Amazon und Co gibt, die der Region zu Gute kommt. Deshalb nochmal meine Bitte an alle: ,Kaufen Sie lokal und unterstützen Sie unsere Geschäfte vor Ort!’“

Auch der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Solidarität, habe sich in der Krise gebessert. Das gelte auch für die Wertschätzung gegenüber der Arbeit von Pflegerinnen und Pflegern, die unterbezahlt seien.

Auch Gertrud Weydert von Bündnis 90/Die Grünen gewinnt dem Heim-Unterricht in Hinblick auf die Nutzung der neuen Medien positive Effekte ab: „Je besser die Schulen digital ausgestattet sind, je selbstverständlicher der Umgang mit den modernen Medien für Schüler und Lehrer ist, desto problemloser läuft dies auch in dieser – für uns vorher kaum vorstellbaren – Situation ab.“ Vor allem sei es von Vorteil, dass die Schüler sich nun das Lerntempo selbst einteilen könnten und nicht mehr an den 45-Minutentakt einer Schulstunde gebunden seien. Allerdings seien E-Mails nur ein schwacher Ersatz für das direkte Gespräch im Unterricht.

In Haushalten, in denen die Erziehungsberechtigten weiter normal arbeiten müssen oder auch einfach mit der gesamten Situation überfordert sind, sei die Organisation und Betreuung der Hausaufgaben nicht immer einfach. In Hinblick auf die Wirtschaft sagt Weydert: „Wir können natürlich an die Verbraucher appellieren, jetzt nicht unbedingt neue Kleider, Bücher, Elektroartikel usw. im Internet zu bestellen, sondern dies nach Corona wieder beim heimischen Händler ihres Vertauens zu kaufen.

Aber wird dies insbesondere, wenn wir an die prophezeite Rezession denken, lange fruchten? Kleine Städte wie Bernkastel-Kues und Wittlich werden weiter ausbluten!“ Für Weydert ist die Idee des Philosophen Richard David Precht, eine 25-prozentige Sondersteuer auf alle Internet-Bestellungen grundsätzlich überlegenswert – wenn auch nicht in der Höhe. Weydert: „Mir scheint, wir gehen achtsamer miteinander um, wir entschleunigen – wie es so schön heißt –, diese Erfahrung sollten wir unbedingt auch für die Zeit nach Corona mitnehmen.“

Der Kreisvorstand der FDP im Kreis weist auf neue Effekte hin. Oliver Platz, Mitglied des Verbandsgemeinderats Bernkastel-Kues und stellvertretender Kreisvorsitzender, ist Winzer und sorgt sich: „Die klassischen Vermarktungsmöglichkeiten wie Weinproben, Messen und Feste fehlen, die Verkäufe reduzieren sich deutlich. Die Branche versucht, kreativ zu reagieren. Die mit dem Weinbau eng verwobenen Bereiche der Gastronomie und des Tourismus sind aktuell fast zu 100 Prozent zum Erliegen gekommen.“

Auch wenn die Krise eine große Herausforderung für das Bildungssystem ist, so sei sie doch auch eine Chance, lange aufgeschobene Entwicklungen anzugehen. Stefan Thoma, Schriftführer im FDP-Kreisverband und selbst Lehrer an einer Schule im Kreis, sagt dazu: „Lange Zeit ist die Digitalisierung der Schulen kaum vorangeschritten, denn viel zu lange hatte man vor allem Bedenken, was alles schlecht laufen könne. Vor lauter Bedenken und Angst, etwas falsch zu machen, hat man aber auch vergessen, Dinge richtig zu machen. Das größte Hemmnis der Digitalisierung war nie das Fehlen von Geräten, sondern es waren die Fesseln der Bedenken. Oft war das auch ein Zeichen fehlenden Vertrauens in das Bildungssystem und die dort arbeitenden Menschen. Das erleben wir heute anders. Plötzlich schenkt man den Bildungsprofis dieses Landes das Vertrauen, etwas ändern zu dürfen, weil man durch die Situation einfach etwas ändern muss. Das ist genau das, was man sich seit Jahren in den Schulen gewünscht hat: Vertrauen.“

Mara Gudelj, stellvertende Kreisvorsitzende aus Neumagen-Dhron, kritisiert den Online-Handel, der in der Krise im Vorteil ist: „Wir müssen uns überlegen, dass wir den Online- Händlern, die in der Krise zu den Gewinnern zählen, einen Solidaritäts-Beitrag abverlangen. Sie zahlen minimale Steuern und dürfen sieben Tage, 24 Stunden  Umsatz machen“. „Hier braucht es dringend Maßnahmen, um den unfairen Wettbewerb zu beenden“, fordert sie.

Alois Meyer von der FWG sieht den Landkreis auf einem guten Weg, was die Ausstattung mit DSL in der Fläche betrifft und auch in den Schulen. Dennoch: „Bei aller Digitalisierungseuphorie ist es aber wichtig, nicht die reale Welt aus dem Auge zu verlieren. Telefon- und Videokonferenzen sind sicher ein gutes Hilfsmittel, auch in der Zukunft, allerdings ersetzen sie den persönlichen Kontakt und das persönliche Gespräch nicht vollständig.“

Dass Online-Händler wie Amazon profitieren und die Kleinen „auf der Strecke bleiben“, sieht auch Meyer. Andererseits bieten Dorfläden wie in Klausen auch Potenzial: „Es wird sich nach der Krise zeigen, ob die Erfahrungen, die wir mit vielen regionalen Angeboten von der Apotheke bis zum Lebensmitteleinzelhandel machen, bei den Kunden dazu führen werden, sich wieder mehr auf die Region und ihr direktes Lebensumfeld zu konzentrieren. Gerade auf dem Land haben die Bewohner der Dörfer es weitgehend selbst in der Hand, ihr Lebensumfeld mitzugestalten. Wer auf Dauer regionale Angebote sichern will, kann sehr viel selbst dazu tun. Mehr Wertschätzung auch durch den Einkauf beim regionalen Anbieter wäre von Nöten.“ Positiv sei es, dass die Gesellschaft wieder etwas mehr zusammenrücke.

Melanie Wery-Sims, Sprecherin der Fraktion Die Linke/ÖDP im Kreistag macht derzeit als Mutter von vier Kindern unterschiedliche Erfahrungen im Bereich des „home schoolings“: „In der Grundschule funktioniert dies bei uns noch mit Materialien, die wöchentlich in der Schule abgeholt werden müssen, während es auf dem Gymnasium komplett digital durchgeführt wird. Die Aufgaben kommen via E-Mail. Aus der Sicht einer Mutter ist es mir wichtig, dass die Kinder einerseits nicht zu viel verpassen, auf der anderen Seite aber auch psychisch nicht zu arg unter Druck gesetzt werden. Die Abkapselung von ihren Freundinnen und Freunden und der ferneren Familie, sowie die plötzliche Veränderung des Tagesablaufs sind schon schwierig genug.“

Im Gegensatz zu manchen, die sich über die „erzwungene Digitalisierung“ freuen, sieht Wery-Sims darin „keinen wirklichen Fortschritt“. Wer gleiche Chancen haben wolle, müsse auch für alle gleiche Grundvoraussetzungen schaffen. Wery-Sims: „Ich möchte nicht wissen, wie viele Haushalte momentan genau damit hadern, da eben kein Tablet, Notebook, PC oder schnelles Internet zur Verfügung steht.“

Gerade die kleineren Betriebe leiden, so Wery-Sims, extrem unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Dabei dürfe man auch nicht die Künstlerinnen und Künstler  vergessen. „Pflegerinnen und Pfleger, Verkäuferinnen und Verkäufer, Busfahrerinnen und Busfahrer, die Liste ist lang… Eben alle Leistungsträger mit viel zu niedrigen Löhnen sollten in diesem Jahr von der Lohnsteuer ganz oder teilweise befreit werden,“ sagt die Sprecherin. Stichwort Gesundheitswesen: „Interessant finde ich, dass nun sogar CDUler von einer Verstaatlichung der privatisierten Kliniken sprechen. Eine Forderung, die wir seit Jahren haben. Bestimmte Schwierigkeiten, die wir jetzt haben, sind schlicht und ergreifend hausgemacht und müssen jetzt dringend angegangen werden. Es kann und darf nicht sein, dass Gesundheit Luxus ist, es muss selbstverständlich sein, dass alle Menschen gleichbehandelt werden.“

Brigitte Hoffmann (AfD) warnt vor einer zu langen Zeit des Heim-Unterrichts: „Sofern die digitale Versorgung bei Schulen und Schülern gewährleistet ist, dürfte diese Regelung eine gute Lösung sein, um durch die Krise zu helfen. Bei längerer Dauer könnte dies allerdings zu Lasten schwächerer Schüler gehen und jener, die zu Hause keine Unterstützung erfahren. Die Interaktion von Lehrer und Mitschülern bleibt wichtig!“ Den Umsatzausfall der regionalen Wirtschaft könnten nur rückzahlfreie staatliche Soforthilfen und der Verzicht auf Steuervorauszahlungen abfedern. Hoffmann: „Generell ist es aber notwendig, unsere Kaufgewohnheiten, besonders den wachsenden Trend zum Onlineshopping und zum Einkaufen ausschließlich bei großen Supermarktketten und bei Discountern, mal grundlegend zu überdenken“.

Die Krise habe auch positive Effekte: „Kontaktverzicht und Quarantäne bieten uns Zeit zur Besinnung auf das Wesentliche. Die nun freie Zeit wird für Dinge genutzt, die bisher vielleicht zu kurz kamen oder gar ganz vernachlässigt wurden. Wir entschleunigen, was wiederum der Umwelt zugute kommt. Wir zeigen Solidarität mit Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Wir lernen unsere Freiheitsrechte wieder neu zu schätzen und sehen auch die Notwendigkeit, für diese stets einzutreten.“

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