"Wir klagen erst an, wenn wir sicher sind"

Triers Leitender Oberstaatsanwalt Jürgen Brauer ist nicht glücklich mit Ruf und Bild der Staatsanwaltschaften in der Öffentlichkeit. Mit dem TV hat er über Missverständnisse in der Strafverfolgung gesprochen.

 Der bisherige Leitende Oberstaatsanwalt Jürgen Brauer wird neuer Generalstaatsanwalt in Koblenz. (Archivbild)

Der bisherige Leitende Oberstaatsanwalt Jürgen Brauer wird neuer Generalstaatsanwalt in Koblenz. (Archivbild)

Foto: Friedemann Vetter

Trier. (jp) In mehr als 30 000 Fällen pro Jahr ermittelt die Staatsanwaltschaft Trier in der gesamten Großregion zwischen Eifel und Hochwald gegen mögliche Straftäter. Nur 20 Prozent dieser Ermittlungen führen zu tatsächlichen Anklagen. Über Details wie diese und den Wunsch, die Öffentlichkeit möge seine Behörde als Instrument der Wahrheitsfindung wahrnehmen, spricht Jürgen Brauer mit TV-Redakteur Jörg Pistorius.

Das Bild der Staatsanwaltschaft in der Öffentlichkeit, so Ihre These, ist in vielen Punkten schlicht falsch. Bitte nennen Sie ein Beispiel.

Jürgen Brauer: Der erste Schritt in der Strafverfolgung ist die Aufnahme der Ermittlungen. Schon dieser Schritt wird oft so gewertet, dass an dem, was man dem im Zentrum der Ermittlungen stehenden Beschuldigten vorwirft, sicher etwas dran sein muss, sonst würde die Staatsanwaltschaft ja schließlich nicht ermitteln. Doch das ist falsch.

Stellen Sie es richtig.

Brauer: Wir müssen bereits dann mit Ermittlungen beginnen, wenn ein Anfangsverdacht besteht. Dieser ist keine besonders hohe Hürde. Ein solcher Verdacht besteht bereits, wenn eine Straftat wahrscheinlich ist. In der Regel liegt eine Strafanzeige vor. Wir prüfen, ob der Inhalt dieser Strafanzeige plausibel ist. Dann müssen wir Ermittlungen einleiten. Das tun wir innerhalb eines Jahres in mehr als 30 000 Fällen.

Aus wie vielen dieser Fälle wird eine handfeste Anklage?

Brauer: Aus Etwa 20 Prozent. Der Rest wird eingestellt oder auf andere Weise beigelegt, beispielsweise bei Jugendlichen durch die Ergreifung erzieherischer Maßnahmen.

Die Erhebung der Anklage hat vor allem in öffentlichen Verfahren eine enorme Wucht und provoziert den Eindruck, die Schuld des Angeklagten sei bereits jetzt beleg- und beweisbar.

Brauer: Auch dieser Eindruck ist falsch. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, wenn ein hinreichender Tatverdacht besteht.

Bitte eine kurze Definition für Nicht-Juristen.

Brauer: Wir erheben Anklage, wenn wir nach der Beurteilung des Ermittlungsergebnisses eine Verurteilung des Beklagten für wahrscheinlicher halten als einen Freispruch. Das eröffnet natürlich einen sehr großen Beurteilungsspielraum und bedeutet auch eine extrem hohe Verantwortung des Staatsanwalts.

Wir sind an diesem Punkt noch weit weg von einem tatsächlichen Schuldbeweis.

Brauer: Ja, das ist korrekt. Das Gericht wird zunächst prüfen, ob die von uns erhobene Anklage plausibel und nachvollziehbar ist und damit tatsächlich ein hinreichender Tatverdacht besteht. Dann wird die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Beweisaufnahme und damit die Klärung von Schuld oder Unschuld findet dann in der Hauptverhandlung statt.

Die auch für die Staatsanwaltschaft manchmal Überraschungen bereithält.

Brauer: Natürlich. Wir stellen unsere Prognose schließlich nach Aktenlage. Vor Gericht erlebt man dann möglicherweise einen unglaubwürdigen Zeugen oder einen Beschuldigten, der einen vernünftigen und glaubwürdigen Eindruck macht. Dann kann es, dann muss es einen Freispruch geben.

Ist ein Freispruch eine Niederlage für die Ankläger?

Brauer: Auch diese gängige Meinung ist falsch. Wir haben bei der Staatsanwaltschaft Trier Freisprüche in weniger als fünf Prozent aller Fälle. Wir gehen mit dem hinreichenden Tatverdacht sehr, sehr sorgfältig um und erheben nicht schon dann Anklage, wenn uns eine Verurteilung wahrscheinlich erscheint. Dann wäre die Freispruch-Quote wesentlich höher. Wir klagen erst dann an, wenn wir sicher sind, dass es zu einer Verurteilung kommt.

Schon die Erhebung der Anklage kann für den Beschuldigten vernichtend sein, auch wenn er unschuldig ist und freigesprochen wird.

Brauer: Wir alle wissen, wie belastend es ist, sich in einer öffentlichen Hauptverhandlung gegen einen massiven Schuldvorwurf verteidigen zu müssen. Es bleibt immer etwas zurück.

Fassen Sie Ihre Unzufriedenheit mit dem Ruf Ihrer Behörde in einem Satz zusammen.

Brauer: Ich wünsche mir, dass die Rolle der Staatsanwaltschaft in einem anderen Licht gesehen wird, und zwar als objektives Instrument der Strafverfolgung und Wahrheitsfindung. EXTRA

Die Staatsanwaltschaft Trier hat 95 Mitarbeiter: den Leitenden Oberstaatsanwalt, vier Oberstaatsanwälte, 24 Staatsanwälte, acht Amtsanwälte, sechs Rechtspfleger, 22 Beamte im mittleren Dienst, 23 Justizbeschäftigte, fünf Wachtmeister und zwei Gerichtshelfer. Die Behörde ist zuständig für alle Straftaten in der Stadt Trier und den Landkreisen Trier-Saarburg, Bernkastel-Wittlich, Bitburg-Prüm und Vulkaneifel. Zu den spektakulärsten Fällen der Staatsanwaltschaft Trier gehörte 2010 die Anklage gegen Christoph G. aus Mayen. Er hatte sich jahrelang an fünf Jungen vergangen, darunter Zwillinge aus der Vulkaneifel. 2008 wurden zwei Frauen aus der Eifel zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sie 1999 den Ehemann und Vater umgebracht hatten. (jp)ZUR PERSONJürgen Brauer löste Horst Roos im Mai 2009 als Leitender Oberstaatsanwalt in Trier ab. Brauer (54) ist gebürtiger Dauner und lebt seit mehr als 30 Jahren in Trier. Der promovierte Jurist war vor seiner Abordnung zur Staatsanwaltschaft Trier Abteilungsleiter im Mainzer Justizministerium, davor Vize-Chef der Koblenzer Staatsanwaltschaft.

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