Zeitgeschichte - leibhaftig im gelben Pullunder

Wittlich · Er war der Außenminister der deutschen Einheit und der dienstälteste Außenminister überhaupt: Hans-Dietrich Genscher hat für sein Engagement für Demokratie und Freiheit den Georg-Meistermann-Preis der Stiftung Stadt Wittlich erhalten. Bürgermeister Joachim Rodenkirch überreichte ihm die Auszeichnung in der neuen Eventum-Halle.

Wittlich. Es riecht noch ein wenig wie in einem neuen Auto - kein Wunder, die neue Mehrzweckhalle Wittlichs, das Eventum, ist ja auch gerade erst fertig gestellt worden.
Mehr als 1000 Gäste in Abendgarderobe tummeln sich in dem Bauwerk, dessen technische Möglichkeiten an diesem Abend eindrucksvoll unter Beweis gestellt werden sollen. Moderne Laser-Beleuchtung sorgt für Glanz. Eine Kamera ist auf das Rednerpult gerichtet und überträgt die Bilder auf große Bildschirme rechts und links der Bühne. Es ist besonderer Tag - denn Bürgermeister Joachim Rodenkirch wird dem Außenminister a.D. Hans-Dietrich Genscher den Georg-Meistermann-Preis überreichen. Das ist der erste öffentliche Termin in der neuen Halle.Rodenkirch begrüßt die Gäste und ein Weggefährte Genschers, Bundeswirtschaftsminister a.D. Hans Friderichs, hält die Laudatio. Er erinnert an sein Engagement als Innenminister beim Olympia-Attentat 1972, aus dessen tragischen Ereignissen er Konsequenzen gezogen habe. Unter anderem entstand die Spezialeinheit GSG 9. Er erzählt aber auch die eine oder andere Anekdote über den inzwischen 85-Jährigen. Er habe zum Beispiel nach eingehendem Studium kommunistischer Literatur - als er noch in der sowjetisch besetzten Zone lebte - sich gerade wegen dieser Lektüre dafür entschieden, Liberaler zu werden.
Dann kommt der Moment, auf den alle gewartet haben. Genscher - natürlich im gelben Pullunder, seinem Markenzeichen - tritt auf die Bühne. Rodenkirch, Friderichs und der Kuratoriumsvorsitzende Hermann Simon überreichen ihm den Preis, der mit 10 000 Euro dotiert ist, und dessen Preisgeld an die Kulturtage Wittlich und den Deutschen Kinderschutzbund Bernkastel-Wittlich fließen werden. "Was soll man da sagen?," sagt Genscher. Er fühle sich zutiefst geehrt. Er sei froh, zu den Menschen zu gehören, die schon zu Lebzeiten Positives über sich hören dürften. In seiner Dankesrede erinnerte er an die bedeutsame Verantwortung den Menschen, aber auch den natürlichen Lebensgrundlagen gegenüber. Der Maßstab sei Artikel 1 der Verfassung: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Man solle wachsam bleiben, denn Freiheit sterbe oft scheibchenweise.
Etwas lockerer wird es in der folgenden Talkrunde, die Nachrichten-Journalistin Gundula Gause ("Ich konnte kaum Nein zur Einladung sagen, schließlich kennt meine Schwiegermutter die Großmutter von Joachim Rodenkirch!") moderiert.
Und natürlich kommt das Thema auf den Dreh-und Angelpunkt von Genschers Karriere: die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands. Lebendiger kann man Zeitgeschichte kaum erleben. Genscher berichtet von jenen Tagen, an denen sich das Schicksal Deutschlands entschied. Als Hunderte DDR-Bürger in der Prager Botschaft der Bundesrepublik ausharrten und einreisen wollten, während Genscher in New York war und kein Taxi verfügbar war, um zur sowjetischen Botschaft zu gelangen. Genscher ließ kurzerhand eine Polizeistreife anhalten. Die Beamten zeigte sich zwar nicht davon beeindruckt, dass er der deutsche Außenminister sei, aber als er ihnen eröffnete, dass es um die Vorfälle in Prag ging, da fuhren sie ihn mit Blaulicht zur sowjetischen Botschaft. Genscher tat, was er am besten kann: verhandeln. Er schaffte es, die Sowjets dazu zu bewegen, eine Ausreise für die Menschen in Prag zu ermöglichen. Ein wichtiger Schritt für die Wiedervereinigung. Nachdenklich blickt Genscher zurück und erinnert sich an die Nachkriegszeit: Damals habe sein Großvater gesagt, die Russen würden 50 Jahre bleiben. Nun denke er an seinen Großvater. Der wäre bestimmt froh gewesen, dass sein Enkel dafür gesorgt habe, dass die Russen ein bisschen früher gegangen sind.
Auch Musik stand auf dem Programm der Eröffnung. Der 15-jährige Philipp Vitkov wagt sich unter anderem an ein nicht gerade leichtes Stück, das Prelude aus der Französischen Suite Nr. 2 von Johann Sebastian Bach. Vitkov beeindruckt mit sauberem Spiel bei guten akustischen Verhältnissen.
Am Ende des Festakts dankt ein bewegter und froher Bürgermeister allen Beteiligten und natürlich besonders Hans-Dietrich Genscher. Dann gibt er wahrscheinlich die größte Runde seines Lebens und lädt alle Gäste zu einem Umtrunk ein.

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