712 Namen stehen für grausame Eingriffe

Trier · Wie viele Menschen aus der Region wurden während der Nazi-Zeit im evangelischen Elisabethkrankenhaus gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht? Diese Frage ist noch nicht endgültig beantwortet. Einen Beitrag zur weiteren Aufklärung haben nun auch Schüler des Max-Planck-Gymnasiums (MPG) in Trier geleistet.

Trier. Sie habe immer geahnt, dass mit ihrer Tante "etwas nicht stimmt", erzählt eine Triererin, die anonym bleiben möchte. Die Verwandte habe immer wieder einen Nervenzusammenbruch erlitten, ohne dass sich ihre Familie dies erklären konnte. Ein Blick auf die Tafel, die Schüler des Trierer Max-Planck-Gymnasiums angefertigt haben, genügte der Frau nun, um nach rund 70 Jahren endlich den Grund für das Leiden ihrer Tante zu erfahren: Sie war - wie mindestens 711 weitere Menschen aus der Region - im evangelischen Elisabethkrankenhaus gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht worden.
Grundlage der vor rund 80 Jahren massenhaft vorgenommenen Zwangssterilisationen war das von den Nationalsozialisten 1933 erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Als Erbkrankheiten galten damals etwa Taub- und Blindheit oder schwerer Alkoholismus. Deutschlandweit wurden aufgrund des Gesetzes bis Mai 1945 Hunderttausende Menschen zwangssterilisiert.
Die Namen der Opfer, die in der Trierer Klinik diesen Eingriff erdulden mussten, haben die MPG-Schüler mit Hilfe ihrer Lehrerin Gesche Klein-Menke und des Trierer Historikers Thomas Schnitzler aufgelistet. Im Beisein eines Zeitzeugen, des 87-jährigen Hans Lieser aus Kordel (siehe Extra), haben die Schüler die Namenstafel an Georg-Friedrich Lütticken, den Vorsitzenden des Presbyteriums der evangelischen Kirchengemeinde Trier (EKT), überreicht. Erst vor zwei Jahren hatte die Geschäftsführung des heutigen Ökumenischen Verbundkrankenhauses (ÖKV), zu dem das evangelische Krankenhaus gehört, mit der Aufarbeitung dieses verdrängten Kapitels begonnen: Markus Würz von der Mainzer Universität hatte im Auftrag des Krankenhauses geforscht. Sein Ergebnis: 666 Zwangsterilisationen, ausschließlich an Frauen. Davon geht auch Barbara Weiter-Matysiak in ihrem Beitrag im aktuellen Jahrbuch des Kreises Trier-Saarburg aus. Die ermittelten Zahlen stammten aus einer Publikation eines damals tätigen Gynäkologen in einer Fachzeitschrift, heißt es in dem Aufsatz.
Demgegenüber stehen die 712 Namen auf der Tafel der MPG-Schüler, darunter auch die von Männern. Auch Männer sind dabei. Die Informationen dazu stammten aus dem Anzeigenregister des Erbgesundheitsgerichts Trier (1934-1944) und aus einem Aktenband über Sterilisationen im Elisabethkrankenhaus, erklärt Historiker Schnitzler.Forschung geht weiter


Seiner Meinung nach ist die Aufarbeitung dieses "dunklen Kapitels" noch nicht abgeschlossen. Dem scheint auch die Klinik zuzustimmen: Laut ÖKV-Sprecherin Susanne Hermen wurde im August 2012 ein Förderverein gegründet (siehe Extra). Er soll die Zwangssterilisationen in der Region Trier während der NS-Zeit weiter erforschen. "Denn jede einzelne Sterilisation war und ist ein Akt gegen die Menschenwürde und gegen das Menschenrecht", sagt auch Lütticken. Der Kordeler Hans Lieser und die Triererin, die das Leiden ihrer Tante jahrzehntelang mitansehen musste, haben dies am eigenen Leib erfahren.Extra

Die Gründungsmitglieder des Fördervereins zur historischen Erforschung von Zwangssterilisationen in der Region Trier während der NS-Zeit: Holger Brandt (Kreiskrankenhaus Saarburg), Susanne Hermen (Pressesprecherin ÖVK Trier), Karl-Heinz Köhnen (Kreisverwaltung Trier-Saarburg), Rainer Kropp (Geschäftsführer des ÖVK Trier), Dr. Harald Michels (Leiter des Gesundheitsamtes Trier), Rudolf Müller (Kreisverwaltung Trier-Saarburg), Barbara Weiter-Matysiak (Kreisarchiv, Kreisverwaltung Trier-Saarburg). Im Dezember wird der Verein laut Hermen ins Vereinsregister eingetragen. Er plane die Förderung der wissenschaftlichen Aufarbeitung zum Beispiel im Rahmen einer Promotion sowie Vorträge und weitere Veranstaltungen. katExtra

Hans Lieser wurde 1925 gehörlos in Kordel geboren. Er ist eines von etwa 2200 Opfern, die 1934 und 1935 im Trierer Bezirk zeugungsunfähig gemacht wurden. Er ist im Saarburger Krankenhaus zwangssterilisiert worden. Sein Schwager Valentin Henning hat sich jahrelang dafür eingesetzt, dass Lieser und weitere Betroffene aus der Region eine finanzielle Entschädigung erhalten. Aufgrund seines Engagements hob der Bundestag das Erbgesundheitsgesetz von 1933 im Jahr 1998 auf. Es wurde zum "NS-Unrecht" erklärt. kat

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