Alle Hände für den Aufschwung

Wachstum befriedigend, Wirtschaftspolitik schlecht. Das sind die Kernbotschaften des neuen Frühjahrsgutachtens der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute, das gestern in Berlin vorgestellt wurde. Nachfolgend die wichtigsten Daten und Hintergründe im Überblick:

Was erwarten die Experten?
Die Wirtschaftsforscher erwarten für das laufende Jahr ein Wachstum von 1,6 Prozent. Damit sind sie etwas pessimistischer als die Bundesregierung, die sich zu Jahresbeginn auf ein Plus von 1,7 Prozent festgelegt hatte. Im kommenden Jahr soll das Bruttoinlandsprodukt laut Frühjahrsgutachten um 1,5 Prozent zulegen. Zugleich wird für 2016 ein weiterer Rückgang der Arbeitslosenzahlen um 58 000 auf 2,74 Millionen vorhergesagt. Die Prognose-Daten sind Grundlage für die Haushaltsaufstellung bei Bund, Ländern und Kommunen.

Wie entwickelt sich die Beschäftigung?
Der Beschäftigungsboom ist weiter ungebrochen. Die Zahl der Erwerbstätigen erreicht 2016 mit 43,5 Millionen einen neuen Rekord. Im vergangenen Jahr waren es noch etwa 500 000 Beschäftigte weniger gewesen. Für 2017 wird ein weiterer Anstieg auf fast 44 Millionen erwartet. Die gute Konjunktur wird daher auch in erster Linie vom privaten Konsum getragen. Laut Gutachten geht die Arbeitslosigkeit allerdings 2017 nach oben. Wegen der vielen Flüchtlinge, die zunehmend einen Job suchen, wird sich die Zahl der Erwerbslosen dann um etwa 100 000 auf gut 2,8 Millionen erhöhen. Die Bundesagentur für Arbeit hat bereits angekündigt, die Migranten in einer gesonderten Statistik zu erfassen.

Warum steht die Regierung in der Kritik?
Schon der Titel des Gutachtens kündet von der Stoßrichtung: "Aufschwung bleibt moderat - Wirtschaftspolitik wenig wachstumsorientiert". Soll heißen: Gemessen an den günstigen Rahmenbedingungen - Rekordbeschäftigung, Niedrigzinsen, Haushaltüberschüsse - fällt das Wachstum eigentlich zu mager aus. Den Grund sehen die Forscher in falschen Prioritäten bei den Ausgaben. Statt stärker auf Investitionen zu setzen, konzentriere sich die Regierung auf "verteilungspolitische und konsumtive Maßnahmen". Genannt werden hier zum Beispiel die Mütterrente und die abschlagfreie Rente mit 63, die nicht durch Beiträge gedeckt sind. Konkret fordern die Wirtschaftsforscher, mehr Geld in Bildung und Infrastruktur zu stecken. Als "Wachstumshemmnis" gilt den Experten auch die "nach wie vor" hohe Steuer- und Abgabenlast.

Was sagen die Forscher zur EZB-Geldpolitik?
Die Politik des billigen Geldes der Europäischen Zentralbank halten die Fachleute für angemessen. Damit distanzieren sie sich ebenfalls von der Bundesregierung. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte die Nullzins-Politik der EZB in den vergangenen Tagen heftig kritisiert. Dagegen argumentieren die Wirtschaftsforscher, solange sich zahlreiche Regierungen in der EU vor notwendigen Reformen in ihren Ländern scheuten, müsse die EZB versuchen, die Konjunktur anzukurbeln.

Spielt die Griechenland-Krise noch eine Rolle?
Ja. Schon vor vier Jahren hatten sich die Forscher in ihrem damaligen Gutachten für einen Schuldenschnitt ausgesprochen, Angesichts der Dauerkrise in Athen sind sich die Experten aber inzwischen uneins, ob das reicht. Während das Münchner Ifo-Institut für den Euro-Austritt Griechenlands plädiert, um dort der Wirtschaft durch eine Währungsabwertung zu helfen, sieht das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einem möglichen "Grexit" auch weiterhin "sehr große Stabilitätsrisiken" für den gesamten Euro-Raum. Im Juli steht für Athen eine Milliarden-Rückzahlung an die EZB an. Wie das gelingen soll, ist noch völlig unklar.Meinung

Bequem in der Wärmestube
Die Wirtschaftsforschungsinstitute legen den Finger in die politische Wunde. Die Gefahr besteht, dass sich die Bundesregierung behaglich in der Wärmestube einrichtet. Ob Beschäftigung, Löhne oder Renten: Deutschland hat sich an den Daueraufschwung gewöhnt. Der ist natürlich sehr erfreulich, verleitet aber auch zur Bequemlichkeit - bis hin zur Überschätzung der eigenen ökonomischen Stärke. Wenn die Rahmenbedingungen fast durchweg prima sind, muss schon die Frage erlaubt sein, warum das Wachstum trotzdem nur moderat ausfällt. Die Antwort findet sich ebenfalls im aktuellen Frühjahrsgutachten: weil die Ausgaben des Staates zur Sicherung eines nachhaltigen Aufschwungs im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung in den letzten Jahren kaum ausgeweitet worden sind. Nach wie vor hinken zum Beispiel die Bildungsausgaben in Deutschland zum Teil deutlich hinter vergleichbaren Industriestaaten zurück. Auch von einer grundlegenden Steuerreform ist längst nicht mehr die Rede. Dabei wäre tatsächlich zu überlegen, den Faktor Arbeit von Steuern und Abgaben zu entlasten. Stattdessen redet sich Schwarz-Rot die Köpfe über neue Ausgaben bei der Rente heiß. So kann man wirtschaftliche Kraft auch verspielen. nachrichten.red@volksfreund.de

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