Angstmacher oder Kontrolle?
Seit in Hamburg über die Abschaffung von Schulnoten diskutiert wird, rückt das Thema auch bei Eltern und Lehrern wieder auf die Tagesordnung. In Rheinland-Pfalz will man aber nicht so weit gehen.
Trier. "Noten sind vor allem willkürlich und sagen nur vordergründig etwas über die erbrachte Leistung aus." Und: "Noten sind ein sehr starkes Mittel, um Druck auf die Schüler auszuüben." Dass sich diese Aussagen im Grundsatzprogramm der rheinland-pfälzischen Landesschülervertretung finden, überrascht nicht. Doch seit Hamburg eine der radikalsten Schulreformen Deutschlands umsetzen will, wird auf breiter Front über die Abschaffung der Schulnoten gesprochen. Selbst die CDU in der Hansestadt - bislang vehement für den Erhalt der Schulnoten - tritt dafür ein, die Ziffern unter Klassenarbeiten und in Zeugnissen abzuschaffen. "Schulnoten sind nicht mehr angemessen, um die individuellen Leistungen eines Schülers zu bewerten", sagt der schulpolitische Sprecher der Hamburger CDU-Fraktion, Marion Freistedt. Die Union regiert in Hamburg mit der Grün-Alternativen-Liste (GAL). Und: Deren Schulsenatorin, Christa Goetsch, will unter anderem das Sitzenbleiben und die Noten bis zur sechsten Klasse abschaffen. Die Lehrergewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Rheinland-Pfalz begrüßt den Vorstoß. Noten seien nicht aussagekräftig, vor allem bei Bewerbungen könnten viele Chefs mit individuellen Beurteilungen der Schüler mehr anfangen als mit Ziffern auf dem Zeugnis, sagt GEW-Landeschef Klaus-Peter Hammer. Allerdings könne man die Noten nicht von heute auf morgen abschaffen, zumal die Lehrer mit den schriftlichen Beurteilungen mehr Arbeit hätten, sagt der Gewerkschafter.
Der Siegener Bildungsforscher Hans Brügelmann hält Noten weder für objektiv noch für vergleichbar: "In einer schwachen Klasse bekommt ein Schüler mit der gleichen Leistung bessere Noten als in einer starken", sagt der Professor für Grundschulpädagogik in einem Interview. Nicht nur unter Lehrern und Schülern wird über die Abschaffung der Noten diskutiert. Auch Eltern sind nicht generell dagegen.
Viele Eltern würden in der Grundschule gerne komplett auf Noten verzichten, sagte Marie-Charlotte Opper-Scholz vom Landeselternbeirat. Mit der neuen rheinland-pfälzischen Grundschulordnung gibt es bereits Ansätze dazu. Offiziell sind die Noten in den ersten beiden Klassen abgeschafft, die Lehrer müssen die Kinder individuell beurteilen und etwa in Deutsch die Kompetenz in "Sprechen und Zuhören" oder "Richtig schreiben" ausführlich im Zeugnis erläutern. Bei Mathematik gilt das Gleiche für "Zahlen und Rechnen". Es ist auch möglich, in der dritten Klasse auf Noten zu verzichten. Doch weiter will man im Land nicht gehen: Pläne wie in Hamburg gebe es in Rheinland-Pfalz nicht, heißt es im Mainzer Bildungsministerium.
Meinung
Reform nicht zum Nulltarif
Über die Abschaffung von Schulnoten wird seit Jahren diskutiert. Doch bislang hat sich kein Bildungspolitiker so weit vorgewagt wie die Grünen-Schulsenatorin in Hamburg. Mutig und richtig. Noten sagen oft nichts über die wirkliche Kompetenz aus. Es ist an der Zeit, dass verkrustete Schulformen aufgebrochen werden und frischer Wind in die Klassenzimmer weht. Die neue Grundschulordnung in Rheinland-Pfalz ist ein Schritt in die richtige Richtung - auch wenn sie Lehrern, Eltern und Schülern mitten im Schuljahr übergestülpt wurde und nun versucht wird, sie irgendwie umzusetzen. Die individuelle Beurteilung von Schülern ist ein guter Ansatz, der allerdings an vielen Schulen scheitern muss. Viele Grundschulklassen sind zu groß, Lehrer können sich nicht die Zeit nehmen, jeden einzelnen Schüler zu beobachten und dann zu bewerten. Noten abschaffen: ja, aber nur in kleineren Klassen, in denen Einzelförderung und ausführliche Beurteilung auch möglich sind. Und das bedeutet in letzter Konsequenz auch: Mehr Lehrer sind notwendig. b.wientjes@volksfreund.de