Auf legalem Weg nach Europa - EU plant Verteilung von Flüchtlingen auf Mitgliedstaaten

Brüssel · Um das Sterben im Mittelmeer zu beenden, will die EU-Kommission Flüchtlinge aktiv nach Europa holen und per Quote auf die Mitgliedstaaten verteilen. Langfristig soll es einheitliche Asylverfahren für alle geben. Der Ärger ist absehbar.

Brüssel. Mit großem Pomp hat David Cameron auf dem letzten EU-Gipfel vor seiner Wiederwahl britische Hilfe versprochen. Bei dem Krisentreffen, da kurz zuvor mehr als 1000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken waren, kündigte der Premier die Entsendung des Marine-Flaggschiffs HMS Bulwark, dreier Hubschrauber und zweier Patrouillenboote an. Cameron nannte jedoch eine Bedingung, um die im britischen Wahlkampf tobende Einwanderungsdebatte nicht noch weiter anzuheizen: "Die Flüchtlinge, die wir aufpicken, dürfen aber nicht in Großbritannien Asyl beantragen können. Wir werden sie in den nächstliegenden Hafen bringen, vermutlich in Italien."Präventive Absage


Es war die präventive Absage an einen Vorschlag, der nun aus Brüssel kommt. Die EU-Kommission wird an diesem Mittwoch Pläne präsentieren, um die dramatisch angestiegene Zahl von Flüchtlingen gleichmäßig über die Europäische Union zu verteilen. Ginge es nach einem solchen Verteilungsschlüssel, müsste Großbritannien statt wie 2014 etwa 30 000 Flüchtlinge doppelt so viele aufnehmen. Camerons neue Regierung hat kein Interesse daran. Dabei ist die ungleiche Verteilung offenkundig:
Von den 626 000 Menschen, die vergangenes Jahr Asyl in der EU beantragten, nahmen Deutschland (202 000) und Schweden (81 000) fast die Hälfte auf. Zu den großen Aufnahmeländern zählen auch Frankreich, Ungarn und Italien. Zusammen bearbeiteten die fünf Länder drei Viertel aller Asylanträge, während Portugal lediglich 445 Antragsteller verzeichnete, Estland gerade einmal 145.Neuer Verteilschlüssel


Seit Monaten werben Bund und Länder für eine Quote, um die zumindest mehrheitlich verbreitete Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme nicht zu gefährden. Nun wurden sie von der EU-Kommission erhört. Der Vorschlag, der dem TV vorliegt, umfasst mehrere Schritte.
Zuerst will die Brüsseler Behörde noch im Mai einen Krisenmechanismus aktivieren, der zwar in Artikel 78 der EU-Verträge vorgesehen ist, aber noch nie zur Anwendung kam. Er erlaubt "vorläufige" Notfallmaßnahmen, wenn sich "ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage" befinden. Das wäre in diesem Fall Italien, wo die mit Abstand meisten Flüchtlinge anlanden. Nach dem sogenannten Dublin-System, das vorsieht, den Antrag eines Asylbewerbers dort zu bearbeiten, wo er zuerst europäischen Boden betreten hat, hätten sie in der Theorie fast alle in Italien bleiben müssen.
In der Praxis jedoch ist die Regierung in Rom überfordert und toleriert, dass die Flüchtlinge in den EU-Staat ihrer Wahl weiterreisen - häufig nach Deutschland. Nun sollen als Ad-hoc-Maßnahme die bereits angekommenen Flüchtlinge verteilt werden. Der Fachbegriff heißt "relocation"
Eine Dauerlösung will die EU-Kommission im zweiten Schritt daraus machen. Bis Jahresende soll ein Gesetzesvorschlag auf dem Tisch liegen, der "die Anstrengungen einzelner Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis" berücksichtigt. Der Brüsseler Vorschlag geht über die Neuverteilung bereits in Europa befindlicher Flüchtlinge hinaus, geht es doch auch darum, ihnen die so oft tödliche Fahrt über das Mittelmeer zu ersparen.
Bis zu 20 000 als schutzbedürftig anerkannte Menschen aus den Krisengebieten Afrikas und in Nahost sollen in einem Umsiedlungsprogramm nach Europa geholt werden - so hat es das UN-Flüchtlingshilfswerk als Minimum gefordert. Für 2016 erwägt die Behörde von Jean-Claude Juncker, daraus eine Dauereinrichtung zumachen.
Neben sicherem Geleit für Asylbewerber als legalem Einreiseweg nach Europa ist von zusätzlicher Arbeitszuwanderung kaum die Rede. Es wird nur daran gedacht, die sogenannte Blue Card für hochqualifizierte Einwanderer - von denen bisher 16 000 ausgestellt wurden, davon allein 13 000 in Deutschland - auf Einzelpersonen auszudehnen, die in Europa investieren wollen.
Tatsächlich kommt der Widerstand gegen großzügigere Regelungen nicht nur aus London. Neben Tschechien und der Slowakei lehnten am Dienstag auch die baltischen Staaten das angedachte Quotensystem ab.Meinung

Geteilte Verantwortung
Stuttgart ist groß - mit gut 600 000 Einwohnern die sechstgrößte Stadt Deutschlands. Relativ aber doch wieder klein - nur 0,12 Prozent der 500 Millionen EU-Bürger leben in der Landeshauptstadt. Und da die Zahl der Stuttgarter jener der Menschen entspricht, die 2014 Asyl in der Europäischen Union beantragten, ist auch die Flüchtlingsunterbringungskrise eine relative: Von der reinen Zahl her kann dieser alles in allem reiche Kontinent einen solchen Zustrom verkraften - in der Geschichte ist er mit ganz anderen Wanderungsbewegungen fertig geworden. Und doch lässt sich nicht wegdiskutieren, dass es vor Ort Probleme geben kann, wenn der Eindruck entsteht, dass den einen mehr aufgebürdet wird als anderen. Eine Quote, wie sie die EU-Kommission nun vorschlägt, ist daher richtig und überfällig. Zumal wenn sie so intelligent ist, neben der Einwohnerzahl auch die Wirtschaftskraft miteinzubeziehen. nachrichten.red@volksfreund.deExtra

In Südostasien spitzt sich eine Flüchtlingskrise dramatisch zu. Auf hoher See sollen 8000 Menschen in teils nicht seetüchtigen Booten und ohne ausreichend Wasser und Lebensmittel treiben, wie die Organisation für Migration (IOM) am Dienstag berichtete. Es dürfte sich überwiegend um Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya aus Myanmar handeln. Viele seien wochenlang unterwegs, sagte der Chef des IOM-Büros Thailand, Jeff Labovitz. Er rief die Behörden Thailands, Malaysias und Indonesiens auf, die Menschen an Land zu lassen. Eine Rettungsaktion ist nicht in Sicht. In Malaysia und Indonesien waren seit Sonntag mehr als 1500 Flüchtlinge an Land gekommen, teils so geschwächt und ausgezehrt, dass sie ärztliche Hilfe brauchten. Sie gelten als illegale Migranten und landen sofort in Internierungslagern. Am Pranger stehen vor allem thailändische Schlepper, die mit Beamten und Polizisten unter einer Decke stecken. Sie schmuggelten viele Flüchtlinge nach Malaysia. dpa

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