"Da ist noch etwas möglich"

WITTLICH. Nach der Ermordung eines 63 Jahre alten Betreuers durch einen Jugendlichen auf der griechischen Halbinsel Peloponnes Anfang Februar ist die so genannte Erlebnispädagogik im Ausland erneut in die Kritik geraten. In Wittlich stand unlängst ein 18-jähriger "Problem-Jugendlicher" vor Gericht, der sich in Kroatien am Kind eines Betreuers vergangen hatte.

Vor vier Jahren schlittert Jürgen (Name geändert) erstmals auf die schiefe Bahn. Mit kleineren Diebstählen und Fahrens ohne Führerschein fängt alles an - "nichts im dramatischen Bereich", meint der Wittlicher Amtsrichter Josef Thul, "aber die Menge macht's". 2000 wird Jürgen das erste Mal verurteilt, ein Jahr später das zweite Mal. Die Strafe - 19 Monate Gefängnis - sitzt Jürgen in Wittlich ab. Für die Beamten ist der schon mal aus der Haut fahrende und mitunter aggressive Jugendliche kein einfacher Klient - "schwer zu führen", meint Amtsrichter Thul. Das war Jürgen schon vor Beginn seiner "Knacki-Karriere": Aus Schulen büchst er mehrfach aus, Abschluss Fehlanzeige; auch andere "pädagogische Maßnahmen" laufen bei Jürgen ins Leere. "Nicht beschulbar", heißt das im Amtsdeutsch. Schulterzucken auch beim zuständigen Jugendamt Birkenfeld, wo man nach zahlreichen pädagogischen Anläufen nicht mehr so recht weiß, was mit Jürgen nach seiner Haftentlassung im Dezember 2002 geschehen soll. Kleiner Hoffnungsanker: ein seit Jahren erfolgreich laufendes Jugendhilfe-Auslandsprojekt der gemeinnützigen "Kreuznacher Initiative: Schafft Stellen" (Kiss). Die Einrichtung unterstützt laut Eigenwerbung junge Menschen, "die trotz Ausschöpfung aller Vermittlungsmöglichkeiten nicht in einem Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis stehen und die den Anschluss an das Berufsleben zu verlieren drohen". Jürgen fährt mit Kiss nach Kroatien. Dort, so die Erwartung, soll er sich an einen strukturierten Tagesablauf gewöhnen. Vier Tage in der Woche steht für die sechs Jugendlichen handwerkliches Arbeiten auf dem Programm, sie bauen Häuser wieder auf, die im Krieg zerstört wurden, am fünften Tag ist theoretischer Unterricht. Jürgen, heißt es später, macht sich gut, ist häufig in der Familie seines Betreuers zu Gast und passt sogar gelegentlich auf den kleinen Sohn auf. An einem Februar-Tag 2003 vergeht sich Jürgen, der als Kind von seinem Stiefvater selbst mehrfach missbraucht wurde, an dem Jungen. Der Vierjährige berichtet seinen Eltern von den Übergriffen, die alarmieren die Polizei. Jürgen, damals 17, wird festgenommen und in Kroatien vor Gericht gestellt. Die achtmonatige Gefängnisstrafe sitzt er in einer acht Quadratmeter kleinen Zelle ab - mit drei anderen Insassen.In Deutschland kommt Jürgen wieder in den Knast

Nach seiner Entlassung kehrt Jürgen zu einer Tante nach Deutschland zurück, wird von der Polizei vorgeladen, inhaftiert und kommt in Wittlich erneut vor Gericht - wegen des Vorfalls in Kroatien. 18 Monate Gefängnis lautet schließlich das Urteil, wobei die im Ausland abgesessenen acht Monate doppelt angerechnet werden - wegen der erschwerten Haftbedingungen in Kroatien. Noch anderthalb Monate - bis Mitte Mai - verbüßt der mittlerweile 18-Jährige in Wittlich seine Reststrafe. Wahrscheinlich hängt Jürgen sogar freiwillig noch ein paar Wochen dran, bis das Jugendamt eine Einrichtung gefunden hat, die sich nach der Entlassung intensiv um den jungen Mann kümmert. "Er hat bemerkenswerte Fortschritte gemacht", sagt der Wittlicher Richter Josef Thul, "ist nachgereift." Wenn Jürgen nach dem Gefängnis nicht auf der Straße lande, sondern in einem "sozialpädagogischen Auffangbecken, dann ist noch etwas möglich", glaubt Thul. Dann klappt es vielleicht auch noch mit einem Schulabschluss und der Lehre, schafft Jürgen, wenn auch spät, den Absprung von der schiefen auf die gerade Bahn. Die Initiative Kiss wird ihr Kroatienprojekt demnächst einstellen. Offizielle Begründung: Nach den neuen Aufenthaltsbestimmungen dürfen Ausländer nicht länger als drei Monate im Land bleiben.

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