"Danke für mein Leben"

SCHWEICH. 64 Jahre, nachdem sie mit ihrem Vater eine jüdische Familie vor der Deportation in ein Konzentrationslager gerettet hat, ist Josephine Hünerfeld (93) aus Schweich der Ehrentitel "Gerechte unter den Völkern" verliehen worden – die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel an Nicht-Juden vergibt.

Es war vor sechs Jahren in Leipzig, als die Vergangenheit Josephine Hünerfeld einholte. Die in Schweich (Kreis Trier-Saarburg) lebende Seniorin traf eine Frau wieder, die sie 58 Jahre lang nicht gesehen hatte. Beim letzten Zusammentreffen der beiden war Anneliese vier Jahre alt - und sollte eigentlich nicht mehr am Leben sein. Gemeinsam mit ihren Eltern Walter und Hilde Leopold war das kleine jüdische Mädchen für einen Transport ins Konzentrationslager Theresienstadt vorgesehen. Am Tag vor der Deportation war Josephine Hünerfelds Vater Georg Jünemann von einem befreundeten Drogisten gebeten worden, der jüdischen Familie Unterschlupf zu gewähren. Jünemann beriet sich mit seiner damals 29-jährigen Tochter und willigte schließlich ein. "Wir wussten, dass die Leopolds abgeholt werden, wenn wir es nicht tun", erinnert sich Josephine Hünerfeld. Die heute 93-Jährige war damals bereits Witwe und lebte mit ihrem kleinen Sohn und dem Vater in einem Leipziger Mehrfamilienhaus. An einem Tag im Sommer 1942 zogen die Leopolds ein. "Obwohl wir uns nicht kannten, haben wir uns gleich geduzt", sagt Josephine Hünerfeld. Das vermeintlich verwandtschaftliche Verhältnis der beiden Familien - eine Sicherheitsvorkehrung, von der sich die Gestapo im Ernstfall wohl kaum hätte bluffen lassen. Doch die gefürchtete "Geheime Sicherheitspolizei" der Nationalsozialisten ließ sich im Hause Jünemann nicht blicken. "Aber ich habe nachts manchmal Blut und Wasser geschwitzt, dass es rauskommt", erinnert sich die Schweicherin. Neben der allgegenwärtigen Angst vor Entdeckung plagte der Hunger. "Wir drei hatten schon vorher nicht viel zu essen - und von dem Wenigen mussten plötzlich sechs Leute satt werden." Da habe sie aus lauter Not aus Kartoffelschalen schon mal Knäckebrot gemacht, erinnert sich Josephine Hünerfeld. Nach fünf Wochen zogen die Leopolds das erste Mal aus. Sie tauchten anderswo unter, wo, das wussten auch die Jünemanns nicht. Eines Tages stand die jüdische Familie dann erneut vor der Tür - und blieb abermals fünf Wochen. "Als sie dann wieder gingen, wussten wir: Das war das letzte Mal", sagt Josephine Hünerfeld. Danach hat sie nie wieder etwas von den Leopolds und ihrem Schicksal gehört. Nach dem Krieg heiratete sie erneut, zog mit ihrem zweiten Ehemann, einem Arzt, und den mittlerweile fünf Kindern 1958 erst nach Berlin, später dann nach Boppard am Rhein. Anfang der 60er-Jahre verschlug es die Familie nach Bitburg, später in die Gegend von Trier. Es war vor acht Jahren, als sich ein Wissenschaftler aus Leipzig bei der inzwischen zum zweiten Mal verwitweten Josephine Hünerfeld meldete. Der junge Forscher war beim Aktenstudium auf den über 50 Jahre zurückliegenden Fall aufmerksam geworden und hatte sich auf die Suche nach Angehörigen der Familie Jünemann gemacht. Mit Georg Jünemanns Tochter Josephine fand der Wissenschaftler sogar noch eine Zeitzeugin, die selbst dabei war. Eine Leipziger Journalistin, die von der Sache erfahren hatte, machte schließlich die seit 1942 "verschollene" jüdische Familie Leopold ausfindig - in Cincinnati im amerikanischen Bundesstaat Ohio. Vater Walter Leopold war bereits verstorben, seine damals noch lebende Ehefrau Hilda wohnte bei der Tochter und deren Ehemann Matt. Als Josephine Hünerfeld in Schweich davon erfuhr, war die Freude riesengroß. Nach zahllosen Telefonaten und Briefen traf sie 2000 in Leipzig Anneliese wieder, die sie 58 Jahre lang nicht gesehen hatte - seit das kleine jüdische Mädchen mit ihren Eltern die Wohnung der Leopolds mit unbekanntem Ziel verlassen hatte. "Es war ein sehr bewegender Moment", erinnert sich Josephine Hünerfeld an das Wiedersehen, "wir haben beide geweint." Annelieses Mutter war inzwischen gestorben. Aber auch mit ihr hatte Josephine vor dem Tod noch einmal gesprochen.Nach wie vor engster Kontakt

Auf das erste Wiedersehen von Anneliese und Josephine folgten weitere. "Zwei Mal hat sie mich seitdem schon in Schweich besucht, wir haben engsten Kontakt", erzählt die 93-Jährige. Nach der Rückkehr von ihrer letzten Reise an die Mosel hat die heute 68-jährige Anneliese ihrer Retterin von einst ein kleines Album mit Erinnerungsfotos und einer Widmung geschickt: "Danke für mein Leben." Der Amerikanerin und der Leipziger Journalistin, die sie ausfindig gemacht hatte, ist es zu verdanken, dass Josephine Hünerfeld (und ihr Vater Georg Jünemann posthum) jetzt mit der höchsten Ehrung ausgezeichnet wurden, die der Staat Israel an Nicht-Juden vergibt: "Gerechte unter den Völkern" (siehe Stichwort). "Die Ehrung war mir beinahe etwas peinlich", erzählt die noch immer äußerst rüstige Josephine Hünerfeld, die etwas pikiert darüber war, dass Anneliese Leopold nicht zu der Feierstunde im alten Bonner Rathaus eingeladen worden war. In ihrer kurzen Dankesrede gab sich die 93-jährige Schweicherin bescheiden: "Dass wir damals eine jüdische Familie versteckt haben, war nach unserer Weltanschauung eine Selbstverständlichkeit."

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