Das geballte Elend in der Unterwelt

Die neue Armut in den USA hat viele hässliche Gesichter: Immer mehr Bürger verlieren ihre Existenz und müssen als Obdachlose leben.

Washington/Las Vegas. "Welcome to Fabulous Las Vegas" grüßt das berühmte Neonschild am Beginn des "Strip". Hier, ganz in der Nähe, wohnen John und Amy. Ihre Adresse könnte "Ceasars Palace" lauten, eines jener beliebten Mammuthotels in der Stadt der Sünden. Doch wer John und Amy besuchen will, benötigt keinen Zimmerschlüssel. Sondern nur eine Taschenlampe und den Mut, in das weitverzweigte Kanalsystem vorzudringen, das sich fast 500 Kilometer lang wie ein Labyrinth unter der Stadt erstreckt.

Ein Bett, ein Tisch, ein Fernseher



Weil es in Las Vegas so gut wie nie regnet, fühlen sich die beiden in der Unterwelt des Zocker-Paradieses sicher. Und sie haben in den "Ceasar Tunnel" mitnehmen können, was ihnen vor zwei Jahren bei der Zwangsräumung der Wohnung noch gehörte: ein Bett, einen Beistelltisch, einen Fernseher.

Doch in den Katakomben, ganz nah und doch so fern der Pokertische, Luxussuiten und Edelrestaurants, gibt es keinen Strom - sondern nur das geballte Elend, repräsentiert von gut 700 Obdachlosen, die oben ihren Job verloren und hier unten eine neue Heimat gefunden haben. Wie das Ehepaar, das aus Kalifornien kam, aber bisher keine Arbeit fand und nun tagsüber in Slotmaschinen nach vergessenen Münzen sucht. Matthew O'Brien, der Gründer der Hilfsorganisation "Shine a Light", hat sich zum Ziel gesetzt, ihnen und den in den Flutkanälen hausenden Menschen eine Zukunft zu geben.

40 Männern und Frauen hat der Schriftsteller innerhalb eines Jahres eine Unterkunft vermitteln können. Doch er weiß auch: "Für jeden, der unten einen Platz freimacht, rückt ein anderer nach." Ein Abstieg, wie er tiefer und brutaler nicht sein könnte. Schlafen auf klammen Matratzen mit Ratten, Fäkaliengestank und der Angst vor dem nächsten Sturzregen.

Die neue Armut in den USA, sie hat viele hässliche Gesichter. Wie auch die aus dem Boden springenden "Tent Cities" - Zeltstädte.

Von Sacramento (Kalifornien) über St. Petersburg (Florida) bis hin zu Seattle (Washington) entstanden diese modernen Mahnmale des sozialen Niedergangs. Denn das Land kämpft mit einer sich ausweitenden Krise, die mittlerweile auch jene erfasst, die sich bisher sicher fühlten: Die Arbeiter, Angestellten und Freiberufler der Mittelschicht. Amtliche Daten beschreiben nüchtern die Ausweitung der Wirtschaftskrise: Die Armutsrate stieg von 13,2 Prozent im Jahr 2008 auf 14,3 Prozent im vergangenen Jahr. 43,6 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, die von den Behörden für eine vierköpfige Familie bei einem Jahres-Einkommen von 21 954 Dollar (rund 16 500 Euro) festgesetzt wurde. In den Suppenküchen stehen deshalb immer mehr Menschen Schlange, für die dieser Weg noch vor Kurzem undenkbar war.

Zu den Stammgästen im Speisesaal der "Rescue Mission" von Las Vegas unweit der Glitzerwelt der Casinos gehören auch Helen und Ron O'Connor. Der 72-jährige Rentner und seine 76 Jahre alte Frau haben keine Kinder, von denen sie Unterstützung erwarten dürfen - aber dafür Probleme, die Lebensmitteleinkäufe und die Hausraten zu bezahlen.

Suppenküchen servieren 300 000 Mahlzeiten



Also kommen sie regelmäßig zum 17-Uhr-Dinner in die Suppenküche, die in diesem Jahr 300 000 Mahlzeiten an Bedürftige servieren wird. Und sagen: "So haben wir uns das Alter nicht vorgestellt." Die O'Connors können sich glücklich schätzen: Sie haben immerhin noch ein festes Dach über dem Kopf. Doch für immer mehr Menschen, die sich eine Wohnung nicht mehr leisten können, ist mittlerweile das Auto die letzte Zufluchtsstätte geworden. Fahrzeuge seien die Obdachlosenasyle der Neuzeit, zitiert eine US-Zeitung Joel Roberts von der Organisation Path, die im Großraum Los Angeles Wohnsitzlose betreut. Rund 5000 Menschen leben nach Schätzungen von Path derzeit dort in ihren Autos, obwohl es nur wenige legale Dauer-Stellplätze gibt. Path-Sozialarbeiter fanden in Marina del Rey, einem Villenvorort, eine selbstständige Personalberaterin, die nach dem Verlust ihrer Wohnung seit Wochen in ihrer Limousine schläft. "Sie hatte 36 Jahre lang Arbeit, bis die Rezession kam", sagt Betreuer Jorge Guzman, "nun sitzt sie den ganzen Tag im Auto und liest. Ihrer Tochter hat sie nichts davon gesagt."

In anderen Städten wie Santa Barbara oder Ventura haben die Behörden Parkplätze für jene freigegeben, die nur noch das eigene Fahrzeug vor einer Nacht auf der Parkbank oder in den überfüllten Asylen bewahrt. Armut gab es in den USA jedoch schon immer. Das zur Verfügung stehende Geld der Durchschnittsfamilien schwankt immer stärker von Jahr zu Jahr, während gleichzeitig die vom Staat angebotenen "Sicherheitsnetze" immer größere Löcher aufweisen und viele Bürger keine Rücklagen gebildet haben, sondern immer auf Pump lebten. Wie Peggy und Jim Walker. Der Vater arbeitete 14 Jahre lang bei einem Zulieferer der Autobranche, die Mutter erzog zuhause die Kinder. Dann kam der Entlassungsbrief. Um die Hypothek weiter zahlen zu können, nahm die Familie Darlehen zu hohen Zinssätzen auf. Doch die Bemühungen von Jim Walker, einen neuen Job zu finden, blieben bisher erfolglos. Im Sommer letzten Jahres wurde das Haus zwangsversteigert, die Familie lebt seitdem im Obdachlosenasyl. Damit reihen sich die Walkers in die lange Schlange jener Langzeit-Arbeitslosen ein, die neben dem Job auch etwas anderes verloren haben: Die Hoffnung, jemals wieder eine bezahlte Beschäftigung zu bekommen.

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