"Der Pass ist auch ein Stück Identität"

Berlin · Der schwarz-rote Koalitionsvertrag ist für SPD-Mitglied Kenan Kolat eine Enttäuschung, und er stimmte beim Mitgliederentscheid dagegen. Auch die Willkommenskultur für Zuwanderer hält der 54-jährige Vorsitzende der Türkischen Gemeinde für verbesserungsbedürftig.

Berlin. Im Gepräch mit unserem Korrespondenten Werner Kolhoff erläutert Kenan Kolat die Gründe für seine Kritik. Warum haben Sie gegen den Koalitionsvertrag gestimmt?Kenan Kolat: Es gibt dort durchaus einige gute Dinge. Einen für uns prinzipiellen Punkt aber hat er nicht erfüllt. Wir wollten die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft nicht nur für die hier geborenen Kinder der Migranten haben, sondern für alle Einwanderer der ersten, zweiten und dritten Generation. Für die CDU ist der Einstieg in die doppelte Staatsbürgerschaft eine Art Kulturrevolution, und Gabriel hält das für seinen größten Verhandlungserfolg.Kolat: Es gab vor 2000 bereits die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft. Rot-Grün hat sie damals abgeschafft, wenn auch unter dem Druck der Union. Die SPD kann die kleine Korrektur jetzt deswegen nicht als Erfolg feiern. Außerdem war die bisherige Regelung europarechtlich und verfassungsrechtlich höchst problematisch. Meines Erachtens wäre sie sowieso gefallen. Warum können sich Menschen, die hier schon so lange leben, eigentlich nicht entscheiden, ohne Wenn und Aber Deutsche zu werden?Kolat: Das müssten Sie die Bürger von 60 Nationen fragen, die in Deutschland alle doppelte Staatsbürgerschaften haben dürfen: alle EU-Bürger, Israelis, Brasilianer, Hondurianer und so weiter. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn man sagt, immer und überall muss man sich für eine einzige Staatsbürgerschaft entscheiden. Wenn man aber so viele Ausnahmen macht und nur bei den Türken immer gleich die Loyalitätsfrage stellt, dann misst man mit zweierlei Maß. Warum fragt man das eigentlich nicht David McAllister, den früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten, der zugleich Brite ist? Viele Migranten wollen eben ihre Wurzeln nicht kappen. Der Pass ist zwar nur Papier, aber er ist auch ein Stück Identität. Die Koalition verspricht, die Integrationsbemühungen zu verstärken, vor allem im Bildungsbereich. Ist das aus Ihrer Sicht positiv?Kolat: Von den Worten her schon, aber es fehlt hier ein verbindliches Integrationsgesetz, in dem die Maßnahmen festgeschrieben werden. Der rechtliche und finanzielle Rahmen ist nicht erkennbar. Und beim Bildungssystem müssen die Antworten viel weiter reichen. Das deutsche Bildungssystem ist ober- und mittelschichtsorientiert. Die Migranten kommen aber zu 75 Prozent aus der Unterschicht. Ihren Kindern würde helfen, wenn man sich endlich vom zwei- oder dreigliedrigen Schulsystem verabschieden würde, das die enorme soziale Auslese verursacht. Das aber ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Sind Sie dafür, die Integrationsgipfel fortzusetzen?Kolat: Im Nationalen Aktionsplan Integration ist das beschlossen, und ich halte es auch für sinnvoll. Mittelfristig brauchen wir einen Masterplan Integration und in der Bundesregierung eine Bündelung der Zuständigkeiten. Neben der Staatsministerin im Kanzleramt, die wenig Kompetenzen und gar kein Geld hat, sind derzeit noch vier, fünf Ministerien zuständig. Wir sind für ein Integrationsministerium. Das die Koalition aber nicht vereinbart hat ...Kolat: Dann muss man wenigstens der Staatsministerin im Kanzleramt ein Mitzeichnungsrecht bei allen Anliegen geben, die mit Integration zu tun haben. Diese Staatsministerin wird nun Aydan Özoguz. Freut Sie das und was sind Ihre konkreten Erwartungen?Kolat: Wir freuen uns über diese Ernennung. Sie ist die erste türkischstämmige Politikerin im Bundeskabinett. Sie sollte sich für einen Perspektivwechsel in der Migrationspolitik einsetzen. Anstatt einer einseitigen Integrationspolitik sollte eine neue Partizipationspolitik installiert werden. Wir werden sie unterstützen und kritisch begleiten. Die Koalition verspricht eine neue Willkommenskultur für Zuwanderer. Wie finden Sie das?Kolat: Insgesamt ist die Tonlage in dem Vertrag schon anders als früher, das ist gut. Aber wie sieht die Wirklichkeit der deutschen Willkommenskultur aus? Erst begegnet einem das Auswärtige Amt mit restriktiven Visabestimmungen. Hat man endlich das Visum, kommt dann das Innenministerium in Gestalt der Bundespolizei. Ich habe das neulich selbst erlebt, als Leute vor mir angeblafft wurden: Was wollen Sie in Deutschland? Wollen Sie Sozialhilfe beziehen? Und dann kommt die Ausländerbehörde, Länderzuständigkeit. Da steht der Sachbearbeiter nicht auf und sagt: Guten Tag, wir hoffen, Sie leben sich gut ein, wie können wir Ihnen dabei helfen? Nein, der guckt die Leute nicht mal an. 62 Prozent der Deutschen lehnen Zuwanderung ab. Nicht willkommen ist offenbar auch die Türkei als EU-Mitglied. Es ist von einem ergebnisoffenen Verhandlungsprozess die Rede und auch von der privilegierten Partnerschaft.Kolat: Hier hat die SPD ganz klar CDU-Positionen übernommen, das ist schade. Die Türkei ist noch nicht reif für einen Beitritt, ganz klar. Auch die EU noch nicht, weil sie selbst nicht weiß, was sie eigentlich will, Erweiterung oder Vertiefung. Um weiterzukommen, sollte man jetzt dringend die Verhandlungen über die Kapitel 23 und 24 eröffnen, Menschenrechte und Demokratie. Für die innertürkische demokratische Bewegung wäre das auch eine wichtige Unterstützung von außen, die sie jetzt braucht. wk

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