Der Weg ins Ghetto Lodz - an den Ort des Todes

Wittlich · Am Sonntag, 16. Oktober, jährte sich zum 75. Mal der Tag der ersten und größten Deportation von Juden aus der hiesigen Region. 323 Juden aus Luxemburg und 66 aus den Altkreisen Bernkastel und Wittlich sowie rund 130 Juden aus Trier kamen ins Ghetto Lodz.

Wittlich. In der polnischen Stadt Lodz, die auf Hitlers Befehl in "Litzmannstadt" umbenannt worden war, hatten die Nationalsozialisten ab Frühjahr 1940 einen "Judenbezirk" abgeriegelt - zur Aufnahme sogenannter "Reichsjuden". Nachdem über 233 000 Juden aus Lodz, der zweitgrößten Stadt Polens, in andere Teile Polens verschleppt und zur Zwangsarbeit eingesetzt waren, lebten auf rund vier Quadratkilometern bis zu 163 000 Menschen unter lebensfeindlichen Bedingungen. Anita Bermann aus Wittlich starb am 12. November 1942 im Ghetto Lodz. Sie war 18 Jahre alt. Zwei Monate zuvor war Anitas Mutter Berta ins 60 Kilometer westlich von Lodz gelegene Kulmhof deportiert worden, wo sie in einem umgebauten LKW durch Auspuffgase ermordet wurde. Ehemann Mirtil Bermann, Viehhändler aus Wittlich, hielt durch bis Januar 1944 und starb im Alter von 59 Jahren unter nicht geklärten Umständen im Ghetto. Sohn Siegbert wurde am 26. Juni 1944 in Kulmhof vergast. Nur das älteste Kind der Familie, David Arnold, überlebte die Shoa, weil er rechtzeitig aus Nazi-Deutschland Richtung England fliehen konnte.
Am 16. Oktober 2016 jährte sich zum 75. Mal der Tag der Deportation von 323 Juden aus Luxemburg und 66 Juden aus den Altkreisen Bernkastel und Wittlich sowie rund 130 Juden aus Trier ins Ghetto Lodz (siehe auch ausführlichen Bericht im TV vom 15./16. Oktober, Seite Luxemburg). Unter den "Luxemburgern" befanden sich auch 29 Männer, die zuvor als Zwangsarbeiter an der "Reichsautobahn" im Lager Greimerath bzw. im Wittlicher Gefängnis interniert waren. Zwölf Juden aus Luxemburg überlebten, drei aus Trier.
Einziger Überlebender der "Moseljuden" aus der Deportation vom 16. Oktober 1941 war der 1922 in Veldenz geborene Josef Ermann. Der vermutlich in Saarbrücken zusammengestellte Sonderzug "Da 3" dritter Klasse war kurz nach Mitternacht vom Hauptbahnhof Luxemburg über Trier Richtung Erfurt weiter nach Chemnitz gefahren. Am 18. Oktober gegen 14.30 Uhr traf der Sonderzug im Bahnhof Radegast ein. Der Schock der Neuankömmlinge war gewaltig, wie aus Chronik-Dokumenten des "Judenrates" hervorgeht, der zur "Selbstverwaltung" des Ghettos eingesetzt war. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten reichte nie. Die Schwestern Marianne, Karoline und Florentine Thal aus Thalfang starben wie viele andere innerhalb weniger Monate 1942 im Ghetto. Im Ghetto-Tagebuch des Prager Juden Oskar Singer ist zu lesen: "Wird je ein Mensch der Nachwelt sagen können, wie wir hier gelebt und gelitten haben, wie wir gehungert haben, und wie wir gestorben sind?"
Im Deportationszug und im Ghetto selbst trafen Juden zusammen, die sich aus besseren Tagen kannten. Etwa der Wittlicher Pferdehändler Jakob Ermann und seine Frau Alice, die 1940 nach Trier gezogen waren, auf das Ehepaar Oskar und Irma Mendel, die 1937 Wittlich Richtung Schweich verlassen hatten.Hoffnung auf Flucht


Etliche Juden aus Wittlich, Bollendorf und anderen Moselorten waren schon vor 1938 nach Luxemburg gezogen, um den NS-Schikanen zu entkommen, verbunden mit der Hoffnung, von Luxemburg aus ihre Flucht aus Europa besser organisieren zu können. So auch die in Wittlich geborene Clara Ermann, die aus dem Luxemburger Sammellager Fünfbrunnen zum Luxemburger Bahnhof geschafft worden war, die Familie von Moritz Levy aus Bollendorf, die bis 1935 in Wittlich gelebt und zuletzt im Nachbarland gewohnt hatte, sowie das Ehepaar Hugo und Eva Friedmann aus Bernkastel, das seit 1938 in Ettelbrück wohnte.
Der Plan des "Judenrates" unter Leitung von Chaim Rumkowski, das Ghetto in ein "Arbeitsghetto" ("Unser einziger Weg ist Arbeit") umzuwandeln und dadurch die Bewohner möglichst lange zu schützen, ging nur eine Zeitlang auf. Wer Arbeit in den für die Wehrmacht arbeitenden Fabriken fand, konnte zwar mit besseren Lebensmittelrationen rechnen - das "Endziel" der Nazischergen, nämlich die physische Vernichtung der Gettobewohner, blieb davon unberührt. Der ganze Zynismus wird deutlich in einem Schreiben von SS-Sturmbannführer Höppner vom 16. Juli 1941 an "Judenreferent" Eichmann in Berlin: "Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, Juden, die nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen."
Von Januar 1942 bis September des Jahres wurden fast 80 000 Menschen der "Aussiedlung" unterzogen, so der NS-Tarnbegriff für die Ermordung in Kulmhof. Betroffen waren vor allem Schwache, Kranke, Kinder und Alte, darunter Ludwig Meyer aus Brauneberg, Eduard und Else Mayer aus Mühlheim, Emilie und Klara Hirsch aus Neumagen-Dhron sowie Louis Mendel, Frontkämpfer des Weltkrieges, mit seiner Frau Johanna und der 19-jährigen Tochter Lieselotte aus Wittlich.Weiter in Mordfabrik Auschwitz


Von den 20 000 "Reichsjuden" lebten Ende 1942 nur noch 3600. Wer bis zur Auflösung des Ghettos Ende August 1944 durchgehalten hatte, wurde in die Mordfabrik Auschwitz-Birkenau deportiert. Diesen Weg gingen noch 62 000 Menschen. Von den "Moseljuden" lebte keiner mehr. 600 Juden mussten die Spuren des Ghettos beseitigen. Auch sie sollten noch liquidiert werden. Die Befreiung des Ghettos durch die Rote Armee am 19. Januar 1945 rettete dem Aufräumkommando und im Ghetto Untergetauchten das Leben, nicht aber 1500 polnischen Häftlingen im Gefängnis Lodz, die einem letzten Massaker der SS zum Opfer fielen.
Josef Ermann musste von 1936 bis November 1938 in Köln Zwangsarbeit beim Straßenbau verrichten. Nach dem Pogrom, bei dem die elterliche Wohnung und das Kolonialwarengeschäft in Veldenz durch SA- und SS-Schläger demoliert und geplündert worden waren, kam Ermann zusammen mit seinem Vater und Bruder Ernst für zwei Wochen ins Wittlicher Gefängnis. Während sein Vater August und seine Mutter Sofie sowie der Bruder im Ghetto Lodz gestorben sind bzw. als verschollen gelten, konnte Josef Ermann das Ghetto verlassen und überstand bis Kriegsende die KZ-Lager Auschwitz, Sachsenhausen, Flossenbürg und Natz-weiler. Mitte 1945 kehrte Ermann zurück nach Deutschland, lebte kurze Zeit in Veldenz und gründete in Waldbreitbach ein Transportgeschäft. Im April 1948 emigrierte er ab Bremerhafen in die USA, wo er 1954 eingebürgert wird und Tilly Schnoll heiratet. In der neuen Heimat arbeitet Ermann, der einmal Ingenieur werden wollte, als Elektriker. Von seinen schlimmen Erfahrungen in Nazi-Deutschland hat er nie erzählt. Josef Ermann stirbt am 17. Februar 1989 und ist bestattet auf dem jüdischen Friedhof von New Jersey.
Auch David Arnold Bermann musste mit dem Trauma, einziger Überlebender seiner Familie zu sein, zurechtkommen. Im Alter hat er noch häufig Wittlich besucht. Erst allmählich fand er die Kraft, über das Schicksal seiner Familie zu berichten. Im Alter von 82 Jahren ist er 2003 in Naharia/Israel gestorben.
Der Autor Franz-Josef Schmit (62) ist Lehrer für Deutsch und Ethik am Cusanus-Gymnasium in Wittlich. Er engagiert sich im Arbeitskreis Jüdische Gemeinde Wittlich und publiziert regelmäßig etwa in Kreisjahrbüchern zur NS-Lokalgeschichte und zur früheren jüdischen Gemeinde der Stadt. Zudem sind Beiträge von Schmit im Trierischen Volksfreund veröffentlicht worden. sosExtra

Die Studie "Letzte Jahre. Das Schicksal der deportierten Juden aus dem Kreis Bernkastel-Wittlich in der Zeit von 1933 - 1945" von Marianne Bühler wird am 3. November 2016 vorgestellt. Sie behandelt ausführlich die Deportation vom 16. Oktober 1941 zum Ghetto "Litzmannstadt", die "Aussiedlungen" nach Kulmhof und die Deportationen aus der Region in verschiedene Tötungslager. Das Schicksal der Juden aus Luxemburg, die Zwangsarbeit beim Bau der Autobahn leisten mussten, beschreibt das neue Buch von Wolfgang Schmitt-Kölzer zum Bau der "Reichsautobahn" in der Eifel (1939-1941/42). Eine Ausstellung "Der Überlebenskampf jüdischer Deportierter aus Luxemburg und der Region Trier im Getto Litzmann-stadt" wird am Freitag, 21. Oktober, im Alten Rathaus Wittlich eröffnet (zu sehen bis 9. November). Der Eintritt ist frei. Führungen sind möglich. Anmeldung über das Kulturamt der Stadt Wittlich (Tel. 06571/14660) oder das Emil-Frank-Institut (06571/260124). red

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