Die deutschen Parteien spüren den Ernst der Lage

Berlin · Regierung und Opposition im Bundestag gehen bei der Euro-Rettung mit Riesenschritten aufein-ander zu. Das zeigt sich auch daran, dass bereits klare Absprachen für einen Abstimmungsfahrplan getroffen werden.

Berlin. Nachdem es am Mittwoch schon eine Einigung über einen deutschen Vorstoß zur Einführung einer Finanzmarkttransaktionssteuer in mindestens neun EU-Ländern gegeben hatte, verständigten sich die Parteispitzen am Donnerstagmorgen bei einem kurzfristig anberaumten Treffen darauf, schon am 29. Juni über den Europäischen Fiskalpakt und den dauerhaften Rettungsschirm ESM im Bundestag abzustimmen und damit beide Vorhaben in Deutschland zu ratifizieren. Die Sorge, dass nach der Griechenland-Wahl am kommenden Sonntag die Lage außer Kontrolle geraten könnte, treibt die Verantwortlichen um.
SPD-Fraktionsschef Frank-Walter Steinmeier sprach dieses Motiv gestern in einer Bundestagsdebatte direkt an. Er rief alle Beteiligten dazu auf, jetzt "mit Ehrgeiz und Anspruch" zu verhandeln. Denn wenn demnächst neue schlechte Nachrichten aus Griechenland oder Spanien kämen, könne eine Einigung "ein kluges Signal aus Deutschland" sein. Am kommenden Donnerstag ist ein weiteres Spitzentreffen geplant.
Angela Merkel nannte die bisherigen Begegnungen mit der Opposition ausdrücklich "gute Gespräche". Für den Fiskalpakt, der eine Art europäische Schuldenbremse darstellt, ist eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich, also auch das Ja von SPD und Grünen. Beide Parteien verlangen als Bedingung neben der Finanzmarkttransaktionssteuer deutliche Wachstumsimpulse für die Krisenländer. Darüber wird noch verhandelt. "Immer neue Rettungsschirme helfen nicht, wenn wir das Wachstum komplett abwürgen", sagte Steinmeier. Die Linken lehnen den Fiskalpakt grundsätzlich ab.
Wäre da nicht Rainer Brüderle gewesen, man hätte denken können, alle hätten inzwischen den Ernst der Lage verstanden. Aber der FDP-Fraktionschef hielt gestern eine Art Büttenrede vornehmlich gegen die Grünen, die er als "grün lackierte Schicki-Micki-Partei" und "Bioschickeria" bezeichnete. Eigentlich war die Debatte wegen des bevorstehenden G-20-Gipfels in Mexiko angesetzt worden, wozu die Kanzlerin eine Regierungserklärung abgab. Doch werde es im Pazifikbadeort Los Cabos ab Montag zentral um Europa gehen, prophezeite Merkel, und Deutschland werde im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Die Euro-Krise hat bei allen Partnerstaaten die Angst vor einer weltweiten Rezession ausgelöst. Entsprechend groß sind die Erwartungen der beim G-20-Treffen versammelten Staatschefs an die Kanzlerin, die allerdings abwiegelte. Manche glaubten, dass Deutschland die Krise mit einem "Paukenschlag" lösen könne, sagte Merkel. Und natürlich werde Berlin alles tun, um zu helfen. Aber "auch Deutschlands Kräfte sind nicht unbegrenzt".
Merkel versuchte eine schonungslose Analyse der Krisenursachen. Das zentrale Problem aus ihrer Sicht: Die Währungsunion ging vor 20 Jahren nicht mit einer politischen Union einher. "Wir müssen jetzt das nachholen, was damals versäumt wurde". Wer wollte, konnte das als versteckte Kritik an Vorvorgänger Helmut Kohl (CDU) verstehen. Die Kanzlerin ging noch weiter: "Immer wieder wurden in Europa Ziele nicht eingehalten". Statt wie im Jahr 2000 von den EU-Regierungschefs beschlossen bis 2010 der dynamischste Kontinent der Welt geworden zu sein, gebe es "massive Verschuldung, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und mangelnde Fähigkeit, die eigenen Regeln einzuhalten". Europa müsse umfassend reformiert werden. Mehr Binnenmarkt, weniger Bürokratie, mehr Innovation, eine bessere Verteilung der Strukturfondsmittel müsse her. Es war der Ruf nach einer neuen Wahrhaftigkeit in der Europapolitik. Freilich, ein Thema sparte die Kanzlerin weitgehend aus: die Kontrolle der Finanzmärkte. Was Steinmeier sogleich aufspießte. Hier hätten die G20 ihre Versprechungen nicht erfüllt, und hier gehe von Deutschland keine Initiative aus.
Neben dem Bundestag muss auch der Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit über den Fiskalpakt entscheiden. Das soll in einer Sondersitzung am Abend des 29. Juni geschehen. Darauf einigten sich die 16 Regierungschefs gestern, bevor sie nachmittags zu Angela Merkel ins Kanzleramt eilten. Die Länder wollen gegen eventuelle finanzielle Folgen des neuen Regelwerks abgesichert sein. Zustimmen, so wurde aus dem Kreis signalisiert, werden sie dem Fiskalpakt allerdings schon dann, wenn die Bundesregierung ihnen ernsthafte Gespräche über ihre Probleme zusichert. Man erwarte ein klares Verhandlungspaket mit verlässlichen und verbindlichen Aussagen, hieß es.

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